Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
waren, das er sich zum Geburtstag gewünscht hatte.
»Ach, Fen-fen. Fredericks, nimm dein Gehirn in Betrieb. Wenn das Ganze ein Komplott war, um Thargor aus dem Weg zu schaffen, wird er den Teufel tun, es mir zu sagen.«
»Warum sollte er an einem solchen Komplott beteiligt sein? Du weißt ja nicht mal, wer Senbar-Flay ist.«
»Ich glaube, es nicht zu wissen. Aber selbst wenn ich ihn nicht kenne, hat das noch nichts zu besagen. Thargor hat’s mit vielen Leuten verschissen.«
Fredericks, oder vielmehr Pithlit, richtete sich auf, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. »Grad im Moment verscheißt es Thargor mit mir …«, fing er an, aber wurde durch das abrupte Erscheinen eines sehr großen Wachgreifs unterbrochen.
Der mächtige Schnabel funkelte im Mondschein, und der Schwanz peitschte nach links und rechts, während er mit dem entspannten, aber unbeirrten Gang einer Katze, die einen vollen Freßnapf ansteuert, über den Söller tappte. »Thargor, hab acht vor der Bestie!« kreischte Fredericks, der vor Schreck wieder in den alten Sprachduktus verfiel. Dann besann er sich. »Es ist ein roter. Die teure Sorte. Unempfindlich gegen Zauberwaffen.«
»Was sonst als ein roter?« knurrte Orlando. Er zog Raffzahn und duckte sich verteidigungsbereit.
Der Greif blieb in einer immer noch trügerisch gelassenen Haltung stehen – sofern man bei einem Löwe-Adler-Verschnitt mit einer Schulterhöhe von zweieinhalb Metern von Gelassenheit sprechen konnte – und musterte sie beiden mit glasharten, emotionslosen schwarzen Augen, bevor er beschloß, sich den hochgewachsenen Thargor als ersten vorzunehmen. Orlando ärgerte sich: Er hatte gehofft, das Untier würde sich wenigstens zu Anfang kurz gegen Fredericks wenden und ihm damit die Möglichkeit geben, einen ungehinderten Schlag in die Flanke zu führen. Es verdrehte den Hals, um ihn seitlich anzuschauen, da sein Adlerkopf ihm nur ein sehr eingeschränktes beidäugiges Sehen erlaubte. Orlando nutzte die Gelegenheit und huschte ihm wieder direkt vor den Schnabel, dann machte er einen Satz und zielte auf die Kehle.
Der Greif hatte ein besseres Sehvermögen, als Orlando gehofft hatte, oder bessere Reflexe. Er bäumte sich bei Thargors Angriff auf und schwang eine mächtige, klauenbewehrte Pranke. Orlando hechtete und rollte unter den schrecklichen Klauen weg, dann faßte er Raffzahn mit beiden Händen und hieb der Bestie, so fest er konnte, in den Unterleib. Das Schwert klirrte gegen Schuppen und prallte ab.
»Verdammt!« Er flitzte wieder knapp unter den Pranken weg, bevor der wuchtige Leib ihn unter sich begraben konnte. »Das Scheißvieh ist hart wie ein Kettenpanzer!«
»Das Seil!« schrie Fredericks. »Schnell zum Seil!«
Orlando erhob wieder das Schwert und umkreiste den Greif. Das tiefe, dumpfe Grollen der Bestie klang beinahe amüsiert, als sie sich auf den Hinterbeinen mitdrehte und ihn nicht aus den Augen ließ. »Nein. Ich will hier rein, und ich komme hier rein.«
Fredericks hampelte aufgeregt neben der Brüstung herum. »Zum Teufel, Orlando, wenn du nochmal getötet wirst, während dein Fall noch geprüft wird, kommst du nie in das Spiel zurück!«
»Dann seh ich lieber zu, daß ich nicht getötet werde. Jetzt sei still, und tu was Nützliches.«
Er warf sich zur Seite, als der Greif wieder nach ihm schlug. Die mächtigen Klauen fetzten in seinen Umhang und rissen ihm die Seite auf. Nicht weniger als andere in der Simwelt war Orlando ein Meister darin, eine muntere Konversation zu führen, während er um sein Leben kämpfte, aber er hatte sich aus gutem Grund für Thargors lakonisch-barbarischen Stil entschieden. Schlagfertige Antworten waren etwas für höfische Duellanten, nicht für Monstertöter. Monster ließen sich nicht durch Geplapper ablenken.
Mit hauenden Krallen und hackendem Schnabel trieb der rote Greif ihn langsam zur Brüstung des Söllers zurück. Noch wenige Schritte, und er saß in der Falle.
»Orlando! Das Seil!«
Er warf rasch einen Blick über die Schulter. Tatsächlich trennte ihn nur eine Armlänge von der Fluchtmöglichkeit. Aber wenn er aufgab, was dann? Er konnte ohne Thargor leben, sich mit einer anderen Figur wieder nach oben arbeiten, obwohl er dann die ganze Zeit verlor, die er in ihn gesteckt hatte. Aber wenn er sich geschlagen gab, konnte es sein, daß er nie etwas über die goldene Stadt herausbekam. Kein spielendes Alter ego, nicht einmal eines, das so sehr ein Teil von ihm war wie Thargor, konnte ihn je so im Traum
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