Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
verfolgen wie diese phantastische Vision.
»Fredericks«, rief er. »Nimm das Seil, und schling es fest um die Brüstung. Schnell!«
»Es hält auch so.«
Orlando fluchte und wich zurück. Das große rote Untier stieß wieder einen Schritt vor, gerade so weit, daß es aus Raffzahns Reichweite blieb. »Mach’s einfach!«
Fredericks machte sich hektisch an der Brüstung zu schaffen. Orlando führte zur Ablenkung einen Streich gegen die Augen des Untiers, aber statt zu treffen, prallte seine Klinge klirrend vom Schnabel ab, dessen jäher Gegenangriff ihn beinahe den Arm kostete.
»Fertig!«
»Zieh jetzt den Rest hoch, und wirf es dem Vieh über den Hals. Ganz drüber, als ob ich auf der andern Seite stehen und drauf warten würde – statt ihm von unten in den Schnabel zu glotzen.« Er wehrte den nächsten Hieb einer riesigen roten Pranke ab.
Fredericks wollte widersprechen, aber holte dann doch das Seil ein und warf es der Bestie in einer lockeren Rolle über die Schultern. Verdutzt hob der Greif den Kopf, doch das Seil glitt einfach über seine Mähne und fiel wenige Meter von Thargors linker Hand auf die Fliesen.
»Jetzt mach was, um ihn abzulenken!«
»Was denn?«
»Herrje, Fredericks, erzähl ihm schmutzige Witze! Irgendwas!«
Der Dieb bückte sich, hob einen Tontopf, der neben der Brüstung stand, hoch über den Kopf und schleuderte ihn nach dem Greif. Der Topf krachte gegen den massigen Brustkasten des Untiers, das zischte und den Kopf herumriß, als schnappte es nach einem Floh. In diesem Augenblick der Unaufmerksamkeit sprang Orlando nach links, packte die Seilrolle und schmiß sich damit dem Greif an den Hals, als dieser sich eben wieder umdrehte. Der Schnabel senste nieder. Thargor warf sich zu Boden, ohne jedoch das Seil loszulassen, und rollte und robbte sich unter dem Hals des Greifs hindurch. Als er die Seite gewechselt hatte, knurrte die Bestie ärgerlich über diesen unverschämt flinken Feind.
Bevor das Untier weit genug herum war, um ihn zu erwischen, ließ Orlando Raffzahn auf die Fliesen fallen, sprang auf die Schultern des Greifs und zog sich an der Mähne aus blutroten Borsten in den Reitersitz hoch. Er stemmte die Hacken in den breiten Nacken, riß das Seil mit aller Kraft nach hinten und zog es fest um die Kehle des Untiers zu.
Ich hoffe, es kommt nicht darauf, sich auf mich zu wälzen …, war der letzte klare Gedanke, den er eine Weile lang fassen konnte.
Der große Lindwurm vom Bergfried Morsin war lang und stark und glitschig gewesen, und sein Todeskampf gegen Thargor hatte den zusätzlichen Reiz besessen, daß er drei Faden tief in schmutzigem Wasser stattfand. Selbst Orlando als gewiefter Kenner der Spielwelt war von der Realität der Erfahrung beeindruckt gewesen. Bei ausreichender Zeit für solche Betrachtungen wäre er ähnlich frappiert davon gewesen, wie exzellent die Designer des Greifs seine momentane durchaus fragwürdige Strategie vorhergesehen und es verstanden hatten, eine ausgesprochen begeisternde Simulation des Eindrucks einzuprogrammieren, den man haben mußte, wenn man ein zwei Tonnen schweres tobendes Fabelwesen gleichzeitig zu reiten und zu erdrosseln versuchte.
Fredericks war ein schreiender Schmierfleck. Der ganze Söller war kaum mehr als eine einzige vibrierende Schliere. Das Ding unter ihm raste wie wild und war gleichzeitig steinhart: Es war, als wollte er eine durchgedrehte Zementmischmaschine niederringen.
Orlando preßte sich, so dicht er konnte, in den Nacken des Greifs, ohne das Seil erschlaffen zu lassen. Es war die einzige Stelle, wo die Klauen und der Schnabel nicht hinkamen, aber die Bestie suchte nach Kräften zu verhindern, daß er sich lange dort halten konnte. Jeder Ruck, jedes heftige Schütteln warf ihn beinahe aus dem nicht vorhandenen Sattel. Das Donnergrollen des Greifs klang jetzt nicht mehr amüsiert, aber auch nicht so, als ob er am Ersticken wäre. Orlando schoß kurz der Gedanke durch den Kopf, ob Rote Greife nicht nur gefeit gegen übernatürliche Waffen waren, sondern vielleicht auch noch besonders ausgefallene Atemwege besaßen.
Das wäre Pech …
Das Ding bockte abermals. Er spürte, daß er dem wilden Aufbäumen nicht mehr lange Widerstand bieten konnte. Um der Stimmigkeit willen sprach Orlando das Stoßgebet, das Thargor gesprochen hätte, dann nahm er eine Hand vom Seil und langte in den Stiefel nach seinem Dolch. Er preßte die Beine härter um den Nacken des Untiers, schlang sich das Seil fester um die Finger,
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