Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
gemacht, und dafür, daß sie um ein Haar gestorben wäre, wußte sie sehr wenig darüber, was eigentlich vor sich ging, und konnte es noch weniger beweisen.
Gar nicht beweisen, heißt das. Ein verschwommener Schnappschuß einer Stadt, eine Kopie auf meinem Pad, eine auf Susans System. Damit geh mal zu UNComm. »Ja, wir glauben, daß diese Leute Kinderseelen ermorden. Der Beweis? Dieses Bild von einem Haufen hoher Gebäude.«
Es waren ziemlich viele Leute in ihrer Ecke von Lower Pinetown auf den Straßen. Das überraschte sie ein wenig, denn es war ein Abend mitten in der Woche, doch die Art, wie die Leute in Gruppen mitten auf der Straße standen, Bekannten etwas zuriefen, Bierdosen herumreichten, hatte eindeutig eine gewisse Volksfestatmosphäre. Als sie am Fuß des Hügels aus dem Bus stieg, biß sie sogar ein scharfer Rauchgeruch in der Nase, als ob jemand Kracher gezündet hätte. Erst als sie halb die Ubusika Street hinaufgegangen war und die Lichter der Rettungswagen an der Wand der Mietskaserne flackern und die Wolke ferngesteuerter Kameras wie Fliegen vor den Flammen schwirren sah, begriff sie endlich.
Sie war völlig außer Atem und schweißgebadet, als sie den Polizeikordon erreichte. Eine dicke Rauchsäule stieg vom Dach des Wohnblocks in die Luft empor, ein dunkler Finger am Abendhimmel. Mehrere der Fenster in ihrem Stockwerk waren zertrümmert und schwarz, wie von einer mächtigen Hitzewelle herausgesprengt; Renies Magen krampfte sich vor Schreck zusammen, als sie sah, daß eines davon ihres war. Sie zählte noch einmal nach, weil sie hoffte, sie habe sich geirrt, obwohl sie genau wußte, daß sie sich nicht geirrt hatte. Ein junger schwarzer Polizist mit heruntergeklapptem Visier hielt sie zurück, als sie gegen die Absperrung preßte und darum bat, durchgelassen zu werden. Als sie ihm sagte, sie wohne hier, verwies er sie an einen Wohnwagen am anderen Ende des Parkplatzes. Wenigstens hundert Leute aus dem Wohnblock und zwei- oder dreimal so viele aus der Nachbarschaft drängten sich auf der Straße, aber Renie sah ihren Vater nicht darunter. Was hatte er nochmal über seine Pläne für den Tag gesagt? Sie versuchte verzweifelt, sich darauf zu besinnen. Meistens war er am späten Nachmittag wieder zuhause.
Das Menschengewühl um den Wohnwagen herum war zu dicht, als daß sie jemand Offiziellen hätte erwischen können. Dutzende von Stimmen versuchten sich lauthals bemerkbar zu machen – die meisten, weil sie verzweifelt etwas über ihre Angehörigen erfahren wollten, manche auch bloß, um zu hören, was passiert war oder ob die Versicherung dafür aufkommen würde. Renie wurde hierhin geschubst und dahin gestoßen, bis sie meinte, vor Erbitterung und Angst schreien zu müssen. Als ihr klar wurde, daß es niemandem auffallen würde, wenn sie tatsächlich schrie, drängelte sie sich wieder aus der Menge hinaus. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Frau Sulaweyo?« Herr Prahkesh, der kleine runde Asiate, der auf demselben Flur wie sie wohnte, nahm seine Hand von ihrem Arm, als wunderte er sich über sich selbst. Er war im Pyjama und Bademantel, aber hatte sich ein Paar Takkies mit offenen Schnürsenkeln an die Füße gezogen. »Ist das nicht schrecklich?«
»Hast du meinen Vater gesehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe ihn nicht gesehen. Es ist einfach zu viel Durcheinander. Meine Frau und meine Tochter sind hier irgendwo, denn sie sind mit mir rausgekommen, aber seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Was ist passiert?«
»Eine Explosion, nehme ich an. Wir waren gerade beim Essen, da – wumm!« Er schlug die Hände zusammen. »Bevor wir wußten, was passiert war, war der Flur schon voll schreiender Leute. Die Ursache weiß ich nicht.« Er zuckte nervös mit den Schultern, als ob ihn jemand verantwortlich machen könnte. »Hast du die Helikopter gesehen? Sie sind in Scharen gekommen und haben Schaum auf das Dach geschüttet und außen an die Wände gespritzt. Ich bin sicher, daß wir alle ganz krank davon werden.«
Renie sah zu, daß sie wegkam. Sie konnte seine besorgte und gleichzeitig aufgekratzte Stimmung nicht ertragen. Seine Angehörigen waren in Sicherheit und tratschten zweifellos gerade mit anderen Nachbarn. Hatten alle überlebt? Bei dem Schaden, den sie sehen konnte, bestimmt nicht. Wo war ihr Vater? Ihr war am ganzen Leib kalt. So oft hatte sie ihn auf den Mond gewünscht, hatte ihn und seine Übellaunigkeit weghaben wollen aus ihrem Leben, aber sie hatte nie
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