Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
paßte den richtigen Moment ab und stieß dem Greif die Klinge ins Auge.
Das dumpfe Grollen schnappte in ein schrilles Kreischen über. Orlando sah sich auf höchst überzeugende Weise durch die Luft fliegen. Als er aufschlug und abrollte, kippte die riesige rote Masse des Greifs schwarzes Blut spritzend auf ihn zu.
»Dsang, Mann. Ho-dsang. Absolut chizz. Das war einer deiner besten Auftritte aller Zeiten.«
Orlando setzte sich auf. Fredericks stand neben ihm, die Augen in seinem Pithlitgesicht vor Erregung weit aufgerissen. »Gott sei Dank benutze ich nicht die üblichen Taktoren«, sagte er und stöhnte, als Fredericks ihm aufhalf. »Aber trotzdem wünschte ich, ich hätte die Kraftreflexion abgeschaltet. Das tat weh.«
»Aber dann würdest du den Sieg nicht angerechnet kriegen.«
Orlando seufzte und betrachtete den Greif. Jetzt, wo er tot auf den Fliesen lag wie ein umgekippter Bus, schien er noch mehr Raum einzunehmen als vorher. »Himmel, Arsch und Zwirn, Frederico, im Augenblick hab ich andere Probleme. Ich will nichts weiter als in diesen Turm rein. Wenn Thargor für tot erklärt wird, was nützen mir dann noch irgendwelche Punkte?«
»Karrierestatistik. Wie bei den Sportlern oder so.«
»Herrje, du scännst echt. Komm jetzt.«
Orlando hob Raffzahn aus der größer werdenden dunklen Blutlache auf und wischte das Schwert am Fell der Leiche ab, bevor er unbekümmert auf die Tür am hinteren Ende des Söllers zuschritt. Falls noch andere Wächter auf der Lauer gelegen hätten, hätte der Aufruhr sie mittlerweile sicher auf den Plan gerufen.
Der Söller endete am Fuß einer breiten Treppe, die aus sich windenden menschlichen Gestalten bestand. Im Lichte der Wandleuchter erblickte er eine Reihe auf- und zuklappender Münder am Handlauf. Das Raunen ihrer klagenden Stimmen füllte den Raum. Der Eindruck wäre stärker gewesen, wenn er nicht vor wenigen Wochen erst in einer Spielzeitschrift eine Anzeige für den Overlay »Gefolterte Seelen« gesehen hätte. Er schürzte verächtlich die Lippen. »Typisch Zauberer.«
Fredericks nickte.
Die Treppe führte noch an mehreren Stockwerken vorbei, alle voll mit drübergeblendetem Zauberergear, von denen vieles gängig und das meiste ziemlich billig war. Orlando kam zu dem Schluß, daß Senbar-Flay, wer er auch sein mochte, den größten Teil seines Taschengeldes für den Greif ausgegeben haben mußte.
Sehr bedauerlich, dachte er. Vielleicht war er versichert.
Er machte sich nicht die Mühe, die unteren Zimmer zu durchsuchen. Die Leute, die Zauberer spielten, zog es wie Katzen immer an die höchsten Punkte, wo sie auf alle anderen hinabblicken konnten. Außer einem Bataillon großer, aber etwas schwerfälliger Wächterspinnen, die Orlando mühelos mit ein paar Schwertstreichen erledigte, stießen sie auf keine Gegenwehr.
Ganz oben im Turm, in einem großen kreisrunden Zimmer, aus dessen Fenstern man Madrikhor in alle Richtungen überblicken konnte, fanden sie Senbar-Flay. Er schlief.
»Er ist nicht da«, sagte Fredericks halb erleichtert. Der Körper lag ausgestreckt auf einer rabenschwarzen Bahre und war von etwas umgeben, das wie ein Glaskasten ausgesehen hätte, wenn es ein klein wenig substantieller gewesen wäre. »Sein Körper ist ebenfalls geschützt.«
Orlando musterte den leblosen Sim des Zauberers. Senbar-Flay war so tief vermummt wie bei ihrer ersten Begegnung; ausgenommen seine heruntergeklappten Lider war er von Kopf bis Fuß in metallicschwarzen Stoff gehüllt. Er trug einen Koboldschädel als Helm, obwohl Orlando sehr bezweifelte, daß der Zauberer den Kobold selbst getötet hatte: Die Läden der Händlerstraße von Madrikhor waren voll von solchen Sachen, die Abenteurer erbeuteten und dann verkauften, um von dem Erlös ihre Waffen oder ihre Attribute zu verbessern oder um sich ein bißchen mehr Zeit online leisten zu können. Einen etwas exotischeren Touch bekam das Ganze dadurch, daß die Hände des Zauberers mit Menschenhaut überzogen waren – nicht seine eigene, nach der knitterigen Vernähung zu schließen.
»Glory Hands«, stellte Fredericks fest. »Hab ich in einem Laden in Lambda gesehen. Geben einem Macht über die Toten, glaube ich. Was hast du jetzt vor, Orlando? Er ist nicht hier.«
»Das war mir schon klar, als er nicht in den Greifkampf eingriff. Aber der Typ hat mich in dieses Loch geschickt, und dort ist was Unheimliches mit mir passiert. Ich will Antworten haben.« Er faßte in die Tasche und holte einen kleinen schwarzen
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