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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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»Habt acht!« rief er und machte dann die Wirkung mit der Frage zunichte: »Seid Ihr auch bestimmt so weit?«
    »Lauft!« Gally flitzte an dem roten Ritter vorbei, der den Kopf drehte, um den Jungen anzubrüllen, was zur Folge hatte, daß er die Lanze seines Feindes mitten auf den Brustharnisch bekam. Aus dem Gleichgewicht gebracht, ruderte er mit den Armen, kippte vom Pferd und schlug schwer zu Boden.
    Als Paul vorbeirannte, rappelte sich der Löwenritter schon wieder auf, wobei er einen mächtigen und recht unangenehm aussehenden Streitkolben aus einem Riemen am Sattel zog.
    »Der war gut, oho, sehr gut, das müßt Ihr zugeben!« sagte der weiße Ritter. Er schien sich nicht zur Abwehr gegen den nahenden roten Ritter zu rüsten.
    »Aber er bringt ihn um!« Paul zögerte und machte einen zaghaften Schritt zurück auf die Lichtung, wo der rote Ritter gerade seine Keule schwang und seinen Gegner aus dem Sattel schmetterte und auf die feuchte Erde beförderte.
    Gally riß ihn so kräftig am Ärmel, daß er beinahe hingefallen wäre. »Laßt die doch machen! Kommt schon, Meister!« Er sauste wieder den Hügel hinunter, diesmal Pauls Ärmel fest im Griff. Paul hatte keine andere Wahl, als hinter ihm herzustolpern. Nach wenigen Momenten war die Lichtung in den Bäumen hinter ihnen verschwunden, aber eine ganze Zeitlang hörten sie noch Ächzen, Fluchen und das wuchtige Krachen von Metall auf Metall.
    »Er hat uns gerettet!« japste Paul, als sie kurz zum Verschnaufen stehenblieben. »Wir können ihn nicht einfach sterben lassen.«
    »Den Springer? Wen schert’s?« Gally schleuderte sich seine feuchten Haare aus dem Gesicht. »Er ist keiner von uns – wenn er abkratzt, kommt er wieder. Im nächsten Spiel.«
    »Wieder? Nächstes Spiel?«
    Aber der Junge lief schon wieder. Paul hastete hinter ihm her.
     
    Die Schatten waren lang und eckig. Die Sonne berührte schon den Grat der Berge, der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. Paul klammerte sich haltsuchend an den Jungen, als sie stehenblieben, und hätte ihn um ein Haar mit umgerissen.
    »Kann nicht…«, keuchte er. »… Pause …«
    »Nicht lange.« Gally schien auch müde zu sein, aber viel weniger als Paul. »Der Fluß ist gleich hinter der Anhöhe, aber wir müssen ihn noch ein gutes Stück langgehen, bevor wir die Grenze erreichen.«
    Paul stützte die Hände auf die Knie, aber war außerstande, hochzukommen und gerade zu stehen. »Wenn … wenn die beiden kämpfen … warum… rennen…?«
    »Weil noch andere da sind – Ihr habt sie auf dem Hügel gesehen. Rotröcke. Fußsoldaten. Aber die können sich ausdauernd und rasch fortbewegen, wenn sie wollen, und müssen nicht anhalten und sich die Lungen aus dem Leib keuchen.« Er ließ sich zu Boden sinken. »Kommt zu Atem, dann müssen wir schleunigst weiter.«
    »Was sollte das vorhin heißen? Mit dem Ritter und dem Sterben?«
    Gally wischte sich übers Gesicht, so daß Schmutzstreifen wie eine wilde Kriegsbemalung zurückblieben. »Die alle, die machen bloß Runde um Runde. Sie kämpfen und kämpfen, bis eine Seite gewinnt, dann geht’s wieder von vorne los. Das ist die dritte Partie seit unserer Ankunft, soweit ich weiß.«
    »Aber kommt denn niemand ums Leben?«
    »Doch, natürlich. Aber nur bis zum Ende der Partie, wie sie’s nennen. Dann fängt alles wieder von vorne an. Sie erinnern sich nicht mal mehr.«
    »Aber du erinnerst dich, weil du nicht von hier bist?«
    »Vermutlich.« Der Junge runzelte die Stirn und wurde nachdenklich. »Meint Ihr, die ganzen Kleinen, Bay und die andern, sind vielleicht beim nächsten Mal wieder dabei? Meint Ihr?«
    »Ist das schon mal passiert? Sind welche von euren Kleinen auf die Art… verlorengegangen und dann wiedergekommen?«
    Gally schüttelte den Kopf.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Paul schließlich. Aber er meinte, es zu wissen. Er bezweifelte, daß der Zauber, der die Bewohner des Achtfeldplans schützte, sich auch auf Außenstehende erstreckte.
    Als er wieder aufrecht stehen konnte, eilte Gally weiter voraus. Nach einer kurzen Strecke durch tiefen Wald durchquerten sie ein Gehölz aus verkrüppelten Bäumen und blickten auf einmal einen langen Wiesenhang hinunter auf den Fluß. Paul hatte keine Gelegenheit, die Aussicht zu genießen. Gally führte ihn bis auf wenige hundert Meter an das Wasser heran und bog dann zur Bergkette hin ab. Sie gingen, so rasch sie konnten, über die sandigen Magerwiesen, geblendet vom orangeroten Schein der Sonne, bis sie in den Schatten

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