Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Haar. Ihr weiter, aufgebauschter Mantel schien aus etwas Schwererem und Steiferem als Tuch gemacht zu sein. Unter dem Saum wehten immer noch ein paar Rauchwölkchen hervor.
»Ihr da! Mir wird gemeldet, ihr hättet euch geweigert, meine Vasallen zu werden.« Ihre Stimme war laut wie eine Diesellok, aber eisig genug, um Vögel im Flug erfrieren zu lassen. »Auf die Art werdet ihr meine Gunst nicht erwerben.«
Gally war neben ihm zu Boden gesackt. Paul holte tief Luft, damit er sprechen konnte, ohne daß ihm die Stimme versagte. »Wir wollten Euch nicht kränken, Hoheit. Wir wollten nur …«
»Still. Er redet nur, wenn er angeredet wird, aber erst wenn ich ihm sage, daß er angeredet worden ist. Jetzt ist er angeredet worden. Er darf reden.«
»Wir wollten Euch nicht kränken, Hoheit.«
»Das hat er bereits gesagt. Ich bin mir jedenfalls nicht sicher, daß ich euch zu Vasallen haben will – ihr seid entsetzliche dumme Kreaturen.« Sie streckte die Hand in die Luft und schnalzte so laut mit den Fingern, daß es wie ein Böllerschuß knallte. Aus der Baumgruppe hoch oben auf der Kuppe kamen drei gepanzerte Fußsoldaten hervor und rutschten und purzelten auf Geheiß ihrer Herrin hurtig den Hang hinunter. »Ich denke, wir machen euch einfach einen Kopf kürzer. Keine sehr originelle Bestrafung, aber ich finde, die alten Sitten sind die besten, nicht wahr?« Sie hielt inne und funkelte Paul böse an. »Na, hat er nichts dazu zu sagen?«
»Laßt uns gehen. Wir möchten einfach fort. Wir haben nicht vor, uns in irgendwas einzumischen.«
»Hatte ich gesagt, er wäre angeredet worden?« Sie runzelte die Stirn und dachte ehrlich nach. »Ach, sei’s drum, wenn ich drauf komme und es stellt sich heraus, daß er ungebeten geredet hat, werde ich ihm einfach zweimal den Kopf abhacken lassen.«
Die Soldaten waren unten angekommen und eilten auf sie zu. Paul überlegte, ob er versuchen sollte, an der Königin vorbeizuschlüpfen und mit einem Spurt die Dunkelheit einer großen Höhle zu erreichen, die nur hundert Schritte entfernt verheißungsvoll im Gefels klaffte.
»Ich durchschaue ihn«, sagte die Königin. »Ich weiß, was er denkt.« In ihrer Stimme war kein Fünkchen Humor oder menschliches Gefühl – man fühlte sich wie von einer grauenhaften Maschine gefangen. »Er darf ohne Erlaubnis auch keinen Fluchtplan schmieden. Nicht daß es ihm viel nützen würde.« Sie nickte; sogleich stand sie zehn Schritte weiter weg. Paul hatte nur einen kurzen roten Wischer gesehen. »Er ist viel zu langsam, um mir zu entkommen«, stellte sie klar. »Obwohl ihr ein wenig schneller gezogen seid, als ich gedacht hätte. Es ist höchst skandalös, wenn Figuren auf den Achtfeldplan kommen und einfach ziehen, wie es ihnen beliebt. Wenn ich wüßte, wer dafür verantwortlich ist, würden Köpfe rollen, das dürft ihr mir glauben.« Wieder verwischten ihre Konturen, und augenblicklich stand sie weniger als einen Meter vor Paul und dem Jungen und blickte mit offensichtlichem Mißfallen auf sie nieder. »Aber Köpfe werden auf jeden Fall rollen. Es ist nur die Frage, welche und wie viele.«
Der erste der Soldaten kam angetrottet, dicht gefolgt von seinen zwei Kameraden. Bevor Paul sich von seiner Überraschung über die erstaunliche Schnelligkeit der Königin erholt hatte, zogen ihm starke und unsanfte Hände die Arme auf den Rücken.
»Es kommt mir so vor, als wäre da noch etwas gewesen«, sagte die Königin abrupt. Sie legte einen scharlachroten Finger an ihr Kinn und neigte auf eine hölzern kindliche Art den Kopf zur Seite. »Wollte ich euch vielleicht ganz andere Teile abhacken lassen als die Köpfe?«
Paul wehrte sich vergeblich. Die zwei Soldaten, die ihn hielten, waren genauso schmerzhaft hart und fest, wie es die Königin zu sein schien. Gally versuchte nicht einmal, gegen den Infanteristen anzukämpfen, der ihn gepackt hatte. »Wir haben nichts getan!« rief Paul. »Wir sind hier fremd!«
»Ah!« Die Königin lächelte vor Freude über ihre Klugheit. Sogar ihre Zähne hatten die Farbe frischen Blutes. »Jetzt fällt es mir wieder ein - Fremde.« Sie steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen ohrenbetäubend lauten Pfiff aus, der von den Felsen widerhallte. »Ich habe versprochen, ihn jemandem auszuliefern. Dann werde ich eben abhacken lassen, was an Köpfen noch übrigbleibt.«
Ein jäher eisiger Schauder durchfuhr Paul wie ein feuchter Wind vom nächtlichen Meer. Er drehte den Kopf, aber wußte schon vorher, was er sehen
Weitere Kostenlose Bücher