Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
der Berge eintauchten.
Paul schaute auf den Fluß hinaus und auf die vage zu erkennende Baumfront, die sich am anderen Ufer hinzog. Neben ihnen schien das im Schatten liegende Wasser voll blau schimmernder Tiefen zu sein, hinter ihnen, außerhalb des Schattens, in dem sie standen, glühte es im Sonnenuntergang wie ein langes Band aus geschmolzenem Gold. Irgendwie wirkte der Fluß wirklicher und zugleich unwirklicher als die Landschaft, die er durchschnitt, als ob man ein Element aus einem berühmten Gemälde in ein anderes eingesetzt hätte.
Er verlangsamte den Schritt, weil er sich plötzlich einer Wolke bruchstückhafter Erinnerungen bewußt wurde, die sich nach und nach immer stärker in seine Gedanken gedrängt hatten. Berühmtes Gemälde? Was sollte das sein? Wo hatte er so etwas schon einmal gesehen oder gehört? Er wußte, was es bedeutete, ohne sich wirklich etwas vorstellen zu können, was dem Begriff entsprach.
»Beeilt Euch, Meister. Wir müssen vor Einbruch der Dunkelheit in den Höhlen sein, oder sie finden uns.«
»Warum schwimmen wir nicht einfach über den Fluß auf die andere Seite?«
Gally schaute sich um und funkelte ihn an. »Bekloppt oder was?«
»Oder wir könnten ein Floß bauen, wenn es zu weit ist – Holz gibt’s hier jede Menge.«
»Warum sollten wir?«
Wie üblich hatte Paul sich auf ein Gelände begeben, wo die in ihm aufsteigenden Wissensfetzen offenbar nicht zu der Welt um ihn herum paßten. »Um … um zu fliehen. Um aus dem Achtfeldplan rauszukommen.«
Gally blieb stehen und stemmte mit strengem Blick die Hände in die Hüften. »Erstens mal hab ich Euch doch gesagt, daß der Fluß nichts ist, weil man da gefunden werden kann. Und zweitens gibt’s keine andere Seite.«
»Was soll das heißen?«
»Was ich gesagt hab – es gibt keine andere Seite. Jeder Kreteng weiß das. Auf die Art kommt man aus dem Achtfeldplan nicht raus – der Fluß läuft einfach dran vorbei.«
Paul verstand den Unterschied nicht. »Aber … aber was ist das?« Er deutete auf das ferne Ufer.
»Das … was weiß ich. Irgend so’n Spiegel, ’n Bild vielleicht. Aber da drüben ist nichts. Auf die Art ham wir eine von den Großen verloren. Sie dachte, sie könnte rüber, obwohl man’s ihr gesagt hatte.«
»Das verstehe ich nicht. Wie kann da drüben nichts sein, wenn ich doch etwas sehe ?«
Gally drehte sich um und ging wieder weiter. »Ihr müßt mir nicht glauben, Meister. Von mir aus bringt Euch um, wenn Ihr wollt. Aber Ihr und ich, wir werden beim nächsten Spiel nicht wieder auftauchen, glaub ich.«
Paul schaute noch ein Weilchen auf die fernen Bäume und eilte dann hinter ihm her. Als der Junge sah, daß er kam, blickte er Paul mit einer Mischung aus Erleichterung und Empörung an, aber dann wurden seine Augen weit und richteten sich auf etwas weiter Entferntes. Paul wandte sich um.
Irgend etwas raste über die Wiese auf sie zu. Es war noch weit weg und bewegte sich zu schnell, um deutlich erkennbar zu sein. Ein dünner Rauchstreifen stieg dort in die Luft, wo hinter der Gestalt eine Schwelspur im Gras zurückblieb.
»Lauft!« schrie Gally.
Trotz seiner Erschöpfung bedurfte Paul keiner Aufforderung. Sie stürzten auf die violetten Berge zu, deren Ausläufer jetzt nur noch etwa tausend Schritte entfernt waren. Ein nähergelegener Steinzacken, den Paul zunächst für eine weitere Felsformation gehalten hatte, erwies sich beim Vorbeilaufen als Werk von Menschenhand. Der einzelne dreieckige Dorn stand übermannshoch in der Mitte eines weiten Kreises flacher Steinplatten, in die seltsame Muster geritzt waren. Auf der glatten, harten Oberfläche, die Paul für das Ziffernblatt einer riesigen Sonnenuhr hielt, kamen sie schneller voran, und einen Moment lang dachte Paul, sie würden die Höhle sicher erreichen. Kleine Tiere mit länglichen, verdrehten Schnauzen huschten ihnen aus dem Weg und in das Gebüsch ringsherum.
Sie stolperten schon über die Sand- und Geröllfläche am Fuß der Berge, als ein rotes Etwas mit dem Lärm und der Fahrt eines kleinen Güterzuges an ihnen vorbeisauste.
Güterzug? wunderte sich Paul noch in seiner kopflosen Panik. Was…?
Das Ding bremste unmittelbar vor ihnen scharf ab, so daß ein Hagel heißer Kiesel aufspritzte. Winzige Steinchen zischten Paul an die Brust und ins Gesicht.
Sie war mindestens einen Kopf größer als er und von Kopf bis Fuß knallrot. Alles an ihr hatte denselben grellen Farbton, sogar ihr hochmütiges Gesicht und ihr hochgestecktes
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