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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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verabscheute – sie hatte ihn zu Ehren einer maßlos dicken wie maßlos christlichen Großtante bekommen –, konnte er vielleicht doch einen angemessenen Ton geschäftsmäßiger Distanz herstellen.
    Die Promptheit, mit der er sich meldete, überrumpelte sie. Der Bildschirm ging so abrupt an, als ob er aus dem Schrank gesprungen wäre. »Renie! Das ist wirklich eine Überraschung – aber eine freudige Überraschung! Wie geht’s dir? Du siehst großartig aus!«
    Del Ray sah seinerseits gut aus, weshalb er das Thema wahrscheinlich anschnitt – schicker, wenn auch leicht konservativer Haarschnitt, gepflegter Anzug, Hemdkragen mit Metallicfäden bestickt. Aber daß er das studentische Äußere abgelegt hatte, war nicht die einzige Veränderung – er sah auf eine tiefere, wesentlichere Art anders aus, die sie nicht sofort einordnen konnte.
    »Mir geht’s ganz gut.« Es befriedigte sie, wie ruhig ihre Stimme klang. »Mein Leben ist im Moment ziemlich … interessant. Aber darüber erzähle ich dir gleich was. Was macht deine Familie? Ich hab kurz mit deiner Mutter gesprochen, aber sie war gerade im Aufbruch.«
    Er setzte sie rasch ins Bild. Allen ging es gut außer seinem jüngeren Bruder, der von klein auf immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war und auch weiter ständig in Schwierigkeiten geriet und (meistens) wieder heraus. Renie war ein wenig zumute wie im Traum, während sie Del Ray beim Reden betrachtete, seiner Stimme lauschte. Es war alles sehr seltsam, aber nicht so schmerzhaft, wie sie erwartet hatte. Er war ein völlig anderer Mensch als der, von dem sie damals, als er sie verließ, sicher gemeint hatte, er hätte ihr für alle Zeit das Herz gebrochen. Dabei hatte er sich gar nicht so drastisch verändert, es war eher so, daß es keine große Rolle mehr spielte. Er hätte genauso gut der frühere Geliebte einer Freundin sein können und nicht ihr eigener.
    »So, das ist meine Geschichte«, sagte er. »Ich bin sicher, deine ist aufregender, und ich bin auch schon ganz gespannt. Ich gehe mal davon aus, daß du mich nicht einfach aus alter Freundschaft angerufen hast.«
    Mist, dachte Renie. Del Ray war vielleicht ein Bürokrat geworden, vielleicht ein Spießer von der Sorte, über die sie sich damals lustig gemacht hatten, aber er war nicht verblödet.
    »Es sieht so aus, als wäre ich in Schwierigkeiten«, sagte sie. »Aber es ist mir nicht wohl dabei, am Telefon darüber zu reden. Können wir uns irgendwo treffen?«
    Del Ray zögerte. Er ist verheiratet, begriff sie. Oder sonstwie in festen Händen. Er weiß nicht so recht, was ich von ihm will.
    »Tut mir leid zu hören, daß du ein Problem hast. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.« Er stockte wieder. »Ich nehme an …«
    »Ich brauche bloß deinen Rat. Es ist nichts, was dich in Schwierigkeiten bringen könnte. Auch nicht mit der Frau in deinem Leben.«
    Seine Augenbraue ging hoch. »Hat Mama dir das gesagt?«
    »Nur eine Vermutung. Wie heißt sie?«
    »Dolly. Wir haben voriges Jahr geheiratet.« Er wirkte ein wenig verlegen. »Sie ist Justizbeamtin.«
    Renie merkte, wie ihr flau wurde, aber wieder war es nicht so schlimm, wie sie gedacht hatte. »Del Ray und Dolly? Fein. Ich vermute, ihr geht nicht viel aus.«
    »Sei nicht eklig. Sie würde dir gefallen.«
    »Wahrscheinlich.« Der Gedanke, im Grunde das ganze Gespräch, machte sie müde. »Hör zu, du kannst sie mitbringen, wenn du willst. Dies ist kein verzweifelter Versuch einer abservierten Geliebten, dich zurückzulocken.«
    »Renie!« Er wirkte ehrlich empört. »Das ist doch dummes Zeug. Ich will dir helfen, wenn ich kann. Sag mir, was ich tun soll. Wo sollen wir uns treffen?«
    »Wie wär’s irgendwo auf der Golden Mile, nach der Arbeit?« Das würde zwar eine lange Busfahrt zurück zur Unterkunft bedeuten, aber wenn sie schon um Liebesdienste bettelte, dann wenigstens in einer angenehmen Atmosphäre.
    Del Ray nannte prompt eine Bar, so prompt, daß sie schloß, es müsse eines seiner Stammlokale sein, und richtete Grüße an ihren Vater und Stephen aus. Er schien auf Mitteilungen über die beiden zu warten, Renies Seite des pflichtgemäßen Informationsaustauschs, aber es gab nicht viel, was sie ihm erzählen konnte, ohne die ganze Sache auf den Tisch zu bringen. Sie beendete das Gespräch so schnell, wie der Anstand es zuließ, und schaltete ab.
    Er sieht brav aus, wurde ihr klar. Es war nicht bloß der Anzug oder der Haarschnitt. Irgend etwas, das ein wenig wild gewesen war, war

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