Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
verschwunden oder wenigstens sehr gut versteckt. Ich etwa auch? Hat er mich angeschaut und gedacht, sieh an, eine triste kleine Dozentin ist aus ihr geworden?
    Sie streckte sich, drückte die Zigarette aus, die ungeraucht heruntergebrannt war, und zündete sich die nächste an. Wollen wir doch mal sehen. Absurderweise war sie beinahe stolz auf ihre merkwürdigen und nicht zu knappen Probleme. Wann ist denn ihm oder seinem Dollylein zuletzt von einer internationalen Verschwörung dicker Männer und hinduistischer Gottheiten das Haus angesteckt worden?
    !Xabbu kam wenige Minuten später wieder herein, aber sie hörte eine ganze Weile nicht auf zu kichern. Es war fast schon hysterisch, zweifellos, aber tausendmal besser als Weinen.
     
    Del Ray musterte !Xabbu eingehend. Zu beobachten, wie er angestrengt überlegte, wer der Buschmann sein mochte und welche Rolle in Renies Leben er wohl spielte, war allein fast den lästigen Aufwand wert, ihn treffen zu müssen. »Freut mich sehr, dich kennenzulernen«, sagte er und drückte dem kleinen Mann mit bewundernswert aufrichtiger Miene die Hand.
    »Del Ray ist Ministerialbeamter bei der UNComm«, erklärte sie, obwohl sie !Xabbu das bereits auf der Fahrt erzählt hatte. Sie freute sich, daß sie ihren Freund mitgebracht hatte; es war ein kleiner Punkt zu ihren Gunsten, ließ sie weniger als abgehalfterte Freundin erscheinen, die um einen Gefallen bat. »Er ist ein sehr hohes Tier.«
    Del Ray runzelte die Stirn und ging auf Nummer Sicher für den Fall, daß er aufgezogen werden sollte. »Nicht sehr hoch. Ein Karrierist auf den unteren Sprossen der Leiter.«
    !Xabbu , der das höfliche Blabla der städtischen Mittelschicht nicht verinnerlicht hatte, nickte einfach, setzte sich in die dicken Polster des Separees zurück und richtete den Blick auf die antiken (oder auf antik getrimmten) Zierleuchter und schweren Holzpaneelen.
    Renie beobachtete beeindruckt, mit welch selbstverständlicher Besitzerpose Del Ray eine Kellnerin herbeiwinkte. Im vorigen Jahrhundert wäre die Bar weißen Geschäftsleuten vorbehalten gewesen und hätte man ihn und Renie und !Xabbu dort unter dem Oberbegriff »die Kaffern« oder »das Schwarzenproblem« abgehandelt, doch heute residierten Del Ray und andere schwarze Aufsteiger hier im Glanz und Gloria des Kolonialreiches. Wenigstens so viel hat sich geändert, dachte sie. Es saßen mehr als nur ein paar elegant gekleidete weiße Männer im Raum, weiße Frauen auch, aber sie bildeten lediglich einen Teil einer Kundschaft, die sich auch aus Schwarzen und Asiaten zusammensetzte. Hier immerhin herrschte echte Gleichheit, auch wenn es die Gleichheit der Reichen und Mächtigen war. Der Feind hatte keine Erkennungsfarbe mehr, sein einziges deutliches Kennzeichen war unzufriedene Armut.
    !Xabbu bestellte ein Bier. Renie ließ sich ein Glas Wein bringen. »Nur ein Glas«, sagte sie, »danach würde ich gern einen Spaziergang machen.«
    Del Ray zog die Brauen hoch. Er setzte die lockere Konversation fort, als die Getränke kamen, aber mit einer gewissen Wachsamkeit, als hätte er den Verdacht, daß Renie jeden Moment mit einer unangenehmen Überraschung herausrücken könnte. Sie umging das eigentliche Thema und berichtete ihm von Stephens Zustand und dem Brand, ohne einen Zusammenhang anzudeuten.
    »Renie, das ist ja furchtbar! Ich bin echt betroffen!« Er schüttelte den Kopf. »Brauchst du irgendwas – Hilfe bei der Wohnungssuche, Geld?«
    Sie schüttelte ihrerseits den Kopf und trank dann ihren Wein aus. »Nein, vielen Dank, aber nett, daß du fragst. Können wir jetzt den Spaziergang machen?«
    Er nickte befremdet und zahlte. !Xabbu , der schweigend sein Bier getrunken hatte, folgte ihnen auf die Hafenpromenade.
    »Laß uns den Pier runtergehen«, schlug Renie vor.
    Sie merkte, daß er langsam nervös wurde, aber Del Ray war tatsächlich ein Politiker geworden. Wenn er noch so gewesen wäre wie als Student, hätte er ärgerlich eine Erklärung verlangt und wissen wollen, warum sie seine Zeit vertrödele. Renie fand, daß wenigstens ein paar seiner Veränderungen nach ihrem Geschmack waren. Als sie am Ende des Piers angekommen und bis auf ein paar Fischer und das Zischen der Brecher ungestört waren, steuerte sie eine Bank an.
    »Du wirst mich für verrückt halten«, sagte sie, »aber ich kann da drinnen nicht reden. Hier draußen ist es sehr unwahrscheinlich, daß uns jemand belauscht.«
    Er zuckte mit den Achseln. »Ich halte dich nicht für verrückt.«

Weitere Kostenlose Bücher