Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
und wandte sich dann wieder Renie zu. »Das mit Stephen tut mir wirklich leid. Grüß deinen Vater von mir.« Er beugte sich vor und küßte sie auf die Wange, drückte sie kurz, drehte sich um und ging den Pier zurück.
Renie sah ihm nach. »Als es mit uns aus war«, sagte sie schließlich, »konnte ich mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.«
»Die Dinge verändern sich immer«, sagte !Xabbu . »Der Wind verweht alles.«
»Ich fürchte mich, Renie.«
Sie schaute auf. Er hatte fast die ganze Busfahrt über geschwiegen und auf dem Weg durch die fensterstarrenden Schluchten der Durbaner Innenstadt die Hochhäuser betrachtet.
»Wegen dem Mord an Susan?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich trauere um sie, ja, und ich bin wütend auf die Leute, die so etwas Schreckliches taten. Aber meine Furcht ist umfassender.« Er hielt inne und schaute zu Boden, die Hände im Schoß gefaltet wie ein Kind, dem befohlen wurde, artig zu sein. »Es sind meine Träume.«
»Du hast erzählt, du hättest in der Nacht, als Susan angegriffen wurde, geträumt, mir wäre etwas Schlimmes passiert.«
»Es ist mehr. Seit wir in diesem … Club waren, sind meine Träume sehr stark. Ich weiß nicht genau, wovor ich mich fürchte, aber ich habe das Gefühl, daß ich, nein, daß wir alle von etwas Großem und Grausamem verfolgt werden.«
Renies Herz schlug schneller. Hatte sie nicht etwas Ähnliches geträumt? Oder erinnerte sie sich bloß an einen Traum von !Xabbu , den dieser erzählt und den sie als eigenen abgespeichert hatte? »Das wundert mich nicht«, sagte sie vorsichtig. »Wir haben etwas Schreckliches erlebt.«
Er schüttelte entschieden den Kopf. »Ich spreche nicht von solchen Träumen, Renie. Das sind die Träume, die Einzelne plagen und die aus ihrem eigenen Leben kommen – die Träume von Stadtmenschen, wenn du mir dieses Wort nicht verübelst. Aber ich spreche jetzt von etwas anderem, gewissermaßen von einer Erschütterung in dem Traum, der uns träumt. Ich kenne den Unterschied. Was mir in den letzten Tagen kam, ist ein Traum, wie ihn meine Leute haben, wenn es nach einer langen Dürre bald regnen wird oder wenn Fremde durch die Wüste nahen. Es ist ein Traum davon, was sein wird, nicht was gewesen ist.«
»Du meinst, du siehst in die Zukunft?«
»Ich weiß es nicht. Es kommt mir nicht so vor, sowenig wie man in die Zukunft sieht, wenn man den Schatten von etwas sieht und weiß, daß die Sache selbst gleich nachkommt. Als Großvater Mantis erkannte, daß seine Zeit auf Erden ablief, als er erkannte, daß zuletzt die Zeit gekommen war, sich mit dem Allverschlinger ans Lagerfeuer zu setzen, da hatte er solche Träume. Auch wenn die Sonne hoch steht, wissen wir, daß sie wieder sinken und daß die Nacht kommen wird. An einem solchen Wissen ist nichts Magisches.«
Sie wußte nicht, was sie erwidern sollte. Vorstellungen wie diese griffen ihr Rationalitätsempfinden an, aber es war ihr nie leicht gefallen, !Xabbus Sorgen und Einsichten abzutun. »Sagen wir, ich glaube dir, nur mal so. Irgendwas verfolgt uns, sagst du. Was heißt das? Daß wir uns Feinde gemacht haben? Aber das wissen wir längst.«
Draußen vor dem Busfenster wurden die spiegelnden hochgesicherten Bürotürme des Geschäftsviertels von einem immer schäbiger werdenden Stadtbild abgelöst, von eilig hingehudelten Wohnblocks und von ramschigen Läden, jeder mit seinem eigenen grellen Neonreklameschnörkel am Eingang. Die Passantenmengen wirkten aus Renies Sicht ziellos und vom Zufall getrieben wie eine leblose fließende Masse.
»Ich spreche von etwas Größerem. Es gibt ein Gedicht, das ich in der Schule gelernt habe – von einem englischen Dichter, glaube ich. Er sprach von einer Bestie, die nach Bethlehem schlapft.«
»Ich erinnere mich, ein wenig. Blutfinstere Fluten. Anarchie auf die Welt losgelassen.«
Er nickte. »Ein apokalyptisches Bild, wurde mir gesagt. Eine Vision der Endzeit. Ich sprach eben vom Mantis und dem Allverschlinger. Dem Großvater Mantis wurde in einer Vision eröffnet, daß eine Zeit großer Umwälzungen kommen werde, und er bereitete sein Volk darauf vor, die Erde für immer zu verlassen, weil seine Zeit darauf abgelaufen war.« Sein kleines, fein geschnittenes Gesicht war ernst, aber in seinen Augen und an seinem angespannten Mund nahm sie eine Art fiebriger Verzweiflung wahr. Er hatte furchtbare Angst. »Ich habe das Gefühl, daß mir eine solche Vision gewährt wird, Renie. Es kommt eine große Umwälzung, eine … wie
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