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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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lauteten die Worte? Eine rohe Bestie, lauernd auf Geburt.«
    Ein Schauder lief Renie über die Haut, als ob die längst verblichene Klimaanlage des Busses plötzlich wieder zum Leben erwacht wäre. War ihr Freund dabei, wahnsinnig zu werden? Er hatte gesagt, das Stadtleben habe viele seiner Leute zerstört – war diese Besessenheit von Träumen und den Mythen seiner Vorfahren der Anfang einer religiösen Manie, die schließlich auch ihn zerstören würde?
    Es ist meine Schuld. Schlimm genug, daß er sich an ein völlig anderes Leben anpassen mußte. Aber jetzt habe ich ihn bis über den Kopf hineingezogen, hinein in den übelsten Morast, den unsere Gesellschaft zu bieten hat. Es ist, als würde man ein kleines Kind auf einem Schlachtfeld oder mitten in einer Sadomaso-Orgie absetzen.
    »Und was sollen wir tun?« fragte sie, nach Kräften bemüht, wenigstens äußerlich ruhig zu bleiben. »Wovon geht diese Bedrohung aus – weißt du das?«
    Er blickte sie eine Weile an. »Ja. Ich kann nicht sagen, was die Ursachen sind oder was die Ergebnisse sein könnten, aber das brauche ich nicht, um den Ort zu spüren, von dem das Problem ausgeht – selbst ein Blinder kann das Lagerfeuer finden. Ich sagte schon, daß der Club, Mister J’s, ein schlechter Ort sei. Das ist er, aber er ist nicht das Herz des Schattens. Ich glaube, er ist wie ein Loch in einem sehr großen Hornissennest – verstehst du? Wenn du dein Ohr an dieses Loch legst, hörst du den Ton von Wesen, die fliegen und beißen und stechen, aber selbst wenn du es mit Lehm verschließt, sind die Hornissen drinnen im Dunkeln immer noch am Leben, und sie werden andere Löcher finden, um hinauszuschlüpfen.«
    »Ich bin durcheinander, !Xabbu . Ich weiß wirklich nicht, was du sagen willst.«
    Er bedachte sie mit einem winzigen, traurigen Lächeln. »Ich weiß es selbst nicht genau, Renie. Daß ich den Schatten sehen kann, bedeutet noch lange nicht, daß ich erkennen kann, was ihn wirft. Aber bei dieser Sache geht es um mehr als nur um deinen Bruder – vielleicht sogar um mehr als das Leben vieler anderer Kinder wie er. Ich rieche es, wie ich das Nahen eines Gewitters rieche. Auch wenn ich es nicht viel genauer verstehe, reicht es doch aus, um mir sehr große Furcht einzujagen.«
    Sie fuhren schweigend weiter, bis !Xabbu wenige Minuten später an seiner Haltestelle in Chesterville ausstieg. Renie winkte ihm durchs Fenster, als der Bus losfuhr, aber seine Worte hatten sie aufgewühlt. Sie war hin und her gerissen. Es war schwer zu sagen, was schlimmer war: zu glauben, daß ihr Freund wahnsinnig wurde, oder zu denken, daß er wirklich etwas wußte, was andere nicht wußten, etwas Grauenhaftes.
    Die Sonne war am Untergehen, als ihr Bus Richtung Pinetown rollte. Die klotzigen, tristen Häuser warfen lange Schatten. Renie sah, wie die orangegelben Straßenlaternen angingen, und versuchte sich vorzustellen, was für Bestien jenseits des Lichtkreises lauern mochten.
     
     
    > Del Ray lächelte, aber er schien nicht ganz glücklich über ihren Anruf zu sein. Renie schob die Prüfung, die sie gerade ausarbeitete, an den Rand des Bildschirms und vergrößerte dann Del Rays Fenster.
    »Hast du irgendwas rausgefunden?«
    Er schüttelte den Kopf. »Bei mir ist die Zeit gerade nicht günstig für ein Gespräch.«
    »Sollen wir uns dann irgendwo treffen?«
    »Nein. Hör zu, ich habe noch nicht viel für dich – es ist eine heikle Situation. Das Unternehmen, nach dem du gefragt hast, erregt viel Interesse, aber es ist nichts Außergewöhnliches festzustellen. Es besitzt eine Reihe von Clubs, einige Herstellungsfirmen, ein paar Gearhäuser, hauptsächlich Sachen, die mit dem Netz zusammenhängen. In China gab es eine Klage gegen einen seiner andern Clubs, die bis vor ein untergeordnetes Gericht kam, eingereicht von einer Frau namens Quan.«
    »Was meinst du mit Klage? Worum ging es?«
    Wieder schüttelte er den Kopf. »Es ging um irgendeine Fahrlässigkeit. Wahrscheinlich ist nichts dran – die Familie zog die Klage vor der Verhandlung zurück. Hör zu, es gibt nicht viel, was ich rausfinden kann, ohne mir Zugang zu verschlossenen Prozeßakten zu verschaffen. Und dazu bin ich eigentlich nicht befugt.« Er zögerte. »Wie geht’s Stephen? Irgendeine Besserung?«
    »Nein. Sein Zustand ist seit Wochen ziemlich unverändert.« Sie hatte in der Nacht zuvor von Stephen geträumt, daß er auf dem Grund eines tiefen Lochs um Hilfe schrie, während sie einem Polizisten oder einem kleinen

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