Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
weißhaarigen Mann mit dem faltigen Gesicht, der diese Bemerkung gemacht hatte. Der Eintretende trug einen zerknitterten uralten Sweater und weite Hosen. »Heiliger Bimbam«, sagte der General, »fängst du schon wieder mit diesem Scheiß an, von wegen ich soll mir das Rauchen abgewöhnen? Was verstehst du denn davon?«
»Irgendwas muß ich davon verstehen«, sagte Wells milde. »Schließlich werde ich nächsten Monat hundertelf.« Er lächelte. »Aber ich werde müde, wenn ich nur daran denke. Ich glaube, ich setze mich erst mal.«
»Mach dir’s nicht zu bequem. Wir müssen reden.«
Wells zog eine Augenbraue hoch. »Rede.«
»Nicht hier. Nichts für ungut, aber es gibt gewisse Dinge, über die ich im Umkreis einer halben Meile von irgendwelchen Abhör- und Aufnahmegeräten nicht reden will, und der einzige Ort, der mehr davon pro Quadratzentimeter hat als deine Gearfarm hier, ist die Washingtoner Botschaft von dem Drittweltland, das als nächstes an der Reihe ist, daß wir ihm Feuer unterm Arsch machen.«
Wells lächelte, aber ein wenig eisig. »Willst du damit andeuten, daß ich deiner Meinung nach in meinem eigenen Büro nicht sicher reden kann? Meinst du wirklich, irgend jemand käme bei Telemorphix durch? Ich habe Gear, von dem selbst die Regierung nur träumen kann. Oder willst du sagen, daß du mir nicht traust, Daniel?«
»Ich will sagen, daß ich bei dieser Geschichte niemandem traue – dir nicht, mir nicht, allen nicht, die vielleicht gerade für uns arbeiten. Ich traue TMX nicht, und ich traue nicht der US-Regierung, der Luftwaffe oder den Pfadfindern der Ortsgruppe Emporia, Kansas. Klar? Nimm’s nicht zu persönlich.« Er nahm die Zigarre aus dem Mund und betrachtete das nasse, abgekaute Ende mit zerstreutem Mißmut, dann steckte er sie wieder zurück und saugte daran, bis das andere Ende rot glühte. Wells runzelte die Stirn über die aufsteigende dicke Rauchwolke, aber sagte nichts. »Ich mach dir einen Vorschlag. Wir können in einer halben Stunde in Portland sein. Einem Gespräch in meinem Flugzeug traue ich auch nicht, wenn dich das beruhigt, also reden wir übers Wetter, bis wir gelandet sind. Du bestimmst den Stadtteil, ich das Restaurant darin. Auf die Art wissen wir, daß von keiner Seite eine abgekartete Sache läuft.«
Wells blickte finster. »Daniel, das ist … sehr überraschend. Bist du sicher, daß das alles nötig ist?«
Yacoubian schnitt eine Grimasse. Er nahm wieder die Zigarre aus dem Mund und drückte sie genüßlich in einem Art-deco-Aschenbecher aus, der damit zum erstenmal seit mindestens einem halben Jahrhundert seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt wurde. Die zuckenden Mundwinkel seines Gastgebers blieben nicht unbemerkt. »Nein, Bob, ich bin bloß deshalb die ganze Strecke hergeflogen, weil ich dachte, daß deine Ernährung zu eißweißarm ist. Menschenskind, wir müssen reden, wenn ich dir’s doch sage. Nimm ein paar von deinen Gorillas mit. Wir schicken sie zusammen mit meinen vor, damit sie dafür sorgen, daß der Laden, den wir uns aussuchen, sauber ist.«
»Wir sollen uns einfach da reinsetzen? Zu … zu den andern Gästen?«
Der General lachte. »Das ist dir unheimlich, hä? Nein, wir schaffen sie raus. Den Besitzern schieben wir genug Geld in den Rachen, daß sich die Sache für sie lohnt. Öffentliches Aufsehen wäre mir wurst, aber meinetwegen können wir ihnen in der Beziehung ein bißchen die Hölle heiß machen. Ich will einfach ein paar Stunden lang keinen Gedanken daran verschwenden müssen, wer jetzt grade wieder mithört.«
Wells zögerte immer noch. »Daniel, ich bin weiß Gott wie lange nicht mehr irgendwo essen gegangen. Ich habe diesen Fleck hier nicht verlassen, seit ich wegen dieser Chose mit dem Freiheitsorden in Washington war, und das ist jetzt fast fünf Jahre her.«
»Dann wird’s dir ganz gut tun. Dir gehört die halbe Welt, Mensch – willst du dir nicht mal was davon anschauen?«
Für Außenstehende – wie die nervöse junge Kellnerin, die bei ihrem Arbeitsantritt hatte feststellen müssen, daß sie an dem Abend nur zwei Gäste zu bedienen hatte, und die jetzt aus der relativ sicheren Position der Küchentür zu ihnen hinüberlugte – schienen die Männer an dem Tisch ungefähr gleich alt zu sein, alt genug, um demnächst mit den ersten Enkeln rechnen zu können. Allerdings ließen nur sehr wenige normale Großväter ihren Tisch und ihre Stühle von einem Sicherheitstrupp sterilisieren oder ihr Essen unter den
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