Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
ist ungewöhnlich. Ich dachte, wenn ein Geist so etwas wie eine merkwürdige Person im Netz wäre, und sie wäre einer, dann könnte ich es besser verstehen. Aber sie ist offensichtlich keine Tote.«
»Ungewöhnlich? Was meinst du damit? Viele Leute wollen ihr Gesicht nicht zeigen, auch wenn sie nicht so einen Zirkus um ihre Sicherheit machen wie Martine.«
»Es war … etwas an der Art, wie sie klang.«
»Ihre Stimme? Aber Stimmen lassen sich verzerren – darauf kannst du nichts geben. Weißt du noch, wie wir in den Club gingen und ich unsere Stimmen tiefer stellte?«
!Xabbu schüttelte leicht unwillig den Kopf. »Ich weiß, Renie. Aber etwas an der Art, wie sie redete, war ungewöhnlich. Und auch, wie der Ort klang, an dem sie sich befand. Sie war in einem Raum mit sehr, sehr dicken Wänden.«
Renie zuckte mit den Achseln. »Sie könnte in einem bombensicheren staatlichen Gebäude oder so sein – ich habe keine Ahnung, was sie sonst macht, außer im Netz rumspuken. Herrgott, ich bete, daß sie sauber ist. Sie ist im Moment meine größte Hoffnung. Es könnte Monate dauern, bis wir auf eigene Faust in TreeHouse reinkämen. Aber woran merkst du das mit den Wänden?«
»Echos, Töne. Es ist schwer zu erklären.« Er kniff die Augen zusammen und sah kindlicher denn je aus. »Als ich in der Wüste lebte, lernte ich die Töne erkennen, die Vögel machen, wenn sie fliegen, oder Beutetiere, wenn sie viele Meilen weit entfernt über den Sand ziehen. Wir hören genau hin.«
»Ich weiß nichts über sie. Vielleicht ist sie … nein, das kann ich mir nicht vorstellen.« Sie stand auf. Am Fuß des Hügels sah sie Studenten zum Unterricht zurückgehen. »Nach meinem Termin bin ich wieder im Labor. Sag mir Bescheid, wenn du auf irgendwas kommst.«
> Renie konnte den Impuls, die Bürotür aus den Angeln zu treten, nur schwer bezähmen. Aber das heftige Zupfeffern reichte aus, um Papiere vom Schreibtisch zu pusten und !Xabbu beinahe vom Stuhl zu werfen.
»Ich faß es nicht! Ich bin suspendiert!« Sie war versucht, die Tür aufzumachen und abermals zuzuknallen, nur um etwas mit ihrem Zorn zu machen, der sie wie Lava durchfloß.
»Du hast deine Stelle verloren?«
Sie fegte an ihm vorbei, schmiß sich in ihren Stuhl und wühlte nach einer Zigarette. »Nicht ganz. Ich hab ein Disziplinarverfahren am Hals. Bis zu meiner Anhörung kriege ich weiter Gehalt, allerdings nur die Hälfte. Verdammt, verdammt, verdammt!« Sie warf die zerbrochene Zigarette weg und griff nach einer anderen. »Ich faß es nicht! Scheiße! Eine Sache nach der andern!«
!Xabbu streckte die Hand aus, wie um sie zu berühren, dann zog er sie wieder zurück.
Hat Angst, er könnte einen Finger verlieren, dachte sie. Und ihr war wirklich danach zumute, jemanden zu beißen. Wenn Doktor Bundazi, die Rektorin, sie angebrüllt hätte, wäre es nicht so schlimm gewesen, aber der enttäuschte Blick hatte viel vernichtender gewirkt.
»Wir haben immer große Stücke auf dich gehalten, Irene.« Dieses langsame Kopfschütteln, das kleine diplomatische Stirnrunzeln. »Ich weiß, daß du es in letzter Zeit familiär sehr schwer hattest, aber das ist keine Entschuldigung für ein derartiges Fehlverhalten.«
»Scheiße.« Sie hatte wieder eine Zigarette zerbrochen. Bei der nächsten paßte sie ein bißchen besser auf. »Wegen der Geräte, die ich mir ausgeliehen hatte – ich hatte eigentlich keine Erlaubnis. Und sie haben entdeckt, daß ich an der E-Mail der Rektorin herumgepfuscht habe.« Sie bekam die Zigarette angezündet und zog daran. Ihre Finger zitterten immer noch. »Und noch ein paar Sachen. Ich schätze, ich habe mich nicht sehr schlau angestellt.« Ihre Augen waren trocken, aber sie hätte am liebsten geweint. »Ich faß es nicht!« Sie holte tief Luft und versuchte sich zu beruhigen. »Okay, komm mit.«
!Xabbu blickte bestürzt. »Wohin gehen wir?«
»Wenn schon, denn schon. Das ist meine letzte Chance, die Ausrüstung der TH zu benutzen. Wir schauen mal, ob Martine was zustande bringt.«
Yono Soundso war gerade im Gurtraum. Völlig selbstvergessen hinter seiner Kopfarmatur schaukelte er hin und her, fuchtelte mit den Händen und stach nach unsichtbaren Gegenständen. Renie drückte mit aller Kraft auf Unterbrechung. Er riß sich den Helm herunter, als ob der Feuer gefangen hätte.
»Oh, Renie.« Ein Fünkchen Schuldbewußtsein flackerte in seinen Augen, zeugte von gehörten und weitererzählten Gerüchten. »Wie geht’s?«
»Bist du so
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