Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Distriktnetz waren sehr teuer, und teuer waren auch die kreativen Moden, die man mitmachen mußte, wenn man seinen Platz in der Elite behaupten wollte. Doch selbst wenn man sich nicht jeden Tag einen neuen und exotischen Sim leisten konnte, selbst wenn man es sich nicht leisten konnte, seinen Geschäfts- oder Privatknoten jede Woche umzustylen, war die schlichte Tatsache einer Adresse im Inneren Distrikt immer noch ein wesentlicher Prestigefaktor in der wirklichen Welt. In der heutigen Zeit war sie oft die letzte Fassade, die die sozialen Absteiger fallen ließen – und das auch nur, wenn sie gar nicht anders konnten.
Renie konnte die Signalquelle nicht gleich lokalisieren, deshalb ging sie auf Schrittgeschwindigkeit herunter, jedoch ohne daß ihr auf das Nötigste reduzierter Sim so etwas Teures und unnütz Kompliziertes wie Gehbewegungen gemacht hätte. Toytowns Randständigkeit war überall um sie herum deutlich erkennbar. Die meisten Knoten waren hochgradig funktional – weiße, schwarze oder graue Boxen, die keinen anderen Zweck hatten, als das Unternehmen eines um seine Existenz ringenden Bürgers von dem des nächsten abzugrenzen. Einige der anderen Knoten waren früher einmal ziemlich pompös gewesen, aber inzwischen stilistisch hoffnungslos veraltet. Einige lösten sich sogar nach und nach auf, weil die Eigentümer die teureren visuellen Funktionen geopfert hatten, um den Platz halten zu können. Sie kam an einem großen Knoten vorbei, angeähnelt einem Bau aus Fritz Langs Metropolis – alte Science-Fiction-Filme waren vor nahezu einem Jahrzehnt die große Mode im Distrikt gewesen –, jetzt aber völlig transparent und die große Kuppel nur noch ein polyedrisches Skelett, alle Details verschwunden, die einst so prachtvollen Farben und Texturen abgeschaltet.
Es gab nur einen einzigen Knoten in der Lullaby Lane, der sowohl zeitgemäß als auch teuer aussah, und der war ganz in der Nähe des Herkunftspunktes von Stephens Hilferuf. Das virtuelle Bauwerk war eine riesige neugotische Villa, die ein Areal von der Größe zweier Häuserblocks in der wirklichen Welt bedeckte, mit spitzen Türmchen und labyrinthisch wie ein Termitenbau. Bunte Lichter blinkten in den Fenstern: dunkles Rot, kalkig mattes Lila und aufpeitschendes Weiß. Dumpf dröhnende Musik tat kund, daß es sich um eine Art Club handelte, desgleichen die bewegten Buchstaben, die wie gleißende Schlangen auf englisch – und anscheinend auch auf japanisch, chinesisch, arabisch und in noch ein paar anderen Schriften – »MISTER J’S« auf die Fassade malten. Und als ob die Cheshire-Katze ihren unschlüssigen Tag hätte, sah man mitten zwischen den sich windenden Buchstaben ein riesiges, zähnefletschendes, körperloses Grinsen aufleuchten und sofort wieder verschwinden.
Sie erkannte den Namen wieder – Stephen hatte ihn erwähnt. Dieser Ort hatte ihn in den Inneren Distrikt gelockt, oder jedenfalls in diesen Teil des Distrikts. Angewidert und fasziniert starrte sie darauf. Die Lockwirkung war leicht zu begreifen: Jeder sorgfältig schattierte Winkel, jedes Licht verströmende Fenster schrie es hinaus, daß hier eine Fluchtmöglichkeit war, die große Freiheit, vor allem die Freiheit von Verboten. Hier gab es ein Asyl, wo alles erlaubt war. Bei dem Gedanken, daß ihr elfjähriger Bruder an einem solchen Ort sein könnte, schoß ihr ein kalter Angststoß das Rückgrat hinauf. Aber wenn er tatsächlich dort war, mußte sie dort hinein …
»Renie! Hier oben!«
Ein leiser Ruf, wie aus nächster Nähe. Stephen versuchte, nur im Nahbereich zu senden, ohne zu begreifen, daß es im Distrikt so etwas wie eine Nahbereichssendung nicht gab beziehungsweise nur dann, wenn man für seine Privatsphäre bezahlte. Wenn jemand mithören wollte, hörte er mit, deshalb war Schnelligkeit das einzige, worauf es jetzt ankam.
»Wo bist du? Bist du in diesem… Club?«
»Nein! Auf der andern Straßenseite! In dem Gebäude mit dem Stoffding davor.«
Sie schaute sich um. Ein Stück die Lullaby Lane hinunter, gegenüber von Mister J’s, erblickte sie etwas, das wie die leere Hülse eines alten Toytown-Hotels aussah – die vertrauenerweckende Simulation einer realen Herberge, ein Ort, wo Distrikt-Touristen Nachrichten empfangen und Tagesausflüge planen konnten. In den Anfangstagen, als die VR noch eine leicht unheimliche Neuheit war, waren solche Hotels populärer gewesen. Dieses Haus hatte seine Glanzzeit offensichtlich schon lange hinter sich. Die Wände hatten
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