Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
sah. Meine kleine Hühnerkasserolle zu machen, war ungefähr so, als wollte man in die Mitte der Kalahari wandern, bloß um seine Wäsche zu trocknen.«
!Xabbu ließ ein vergnügtes Glucksen hören, über das selbst Jeremiah grinsen mußte.
»Also dann«, sagte sie, »her mit den Tellern!«
Jeremiah und Renie leerten die Flasche Wein. Ihr Vater und !Xabbu hatten diverse Biersorten aus der kalten Speisekammer probiert, wobei allerdings Long Joseph einen unverhältnismäßig großen Anteil zu bekommen schien. Jeremiah hatte in dem großen steinernen Kamin Feuer gemacht, und sie hatten die sonstige Beleuchtung fast ganz ausgestellt, so daß der Flammenschein in dem weitläufigen Wohnzimmer flackerte und tanzte. Bis auf das Murmeln des Feuers war die letzte Minute schweigend verstrichen.
Renie seufzte. »Das ist so ein gemütlicher Abend. Es wäre so leicht, alles zu vergessen, was vorgefallen ist, und einfach zu entspannen … loszulassen…«
»Siehste, Mädel, das is dein Problem«, sagte ihr Vater. »Entspannen, jawoll. Genau das solltest du mal machen. Immer machst du dir Sorgen, Sorgen.« Überraschenderweise wandte er sich wie zur Unterstützung an Jeremiah. »Sie nimmt sich zu hart ran.«
»So einfach ist das nicht, Papa. Denk dran, wir sind nicht aus freier Entscheidung hier. Jemand hat unsere Wohnung angezündet. Andere Leute haben Susan … überfallen. Nein, seien wir ehrlich. Sie haben sie ermordet.« Sie warf Jeremiah einen raschen Blick zu, aber der starrte ohne eine Regung in seinem langen Gesicht ins Feuer. »Wir wissen ein bißchen über die Leute, die anscheinend dafür verantwortlich sind, aber wir kommen nicht an sie ran – nicht direkt, weil sie zu reich und zu mächtig sind, und hinten herum wahrscheinlich auch nicht. Selbst wenn Herr Singh – das ist der alte Mann, Papa, der Programmierer –, selbst wenn er weiß, wovon er redet, und wir dieses große Netzwerk, das sie gebaut haben, erforschen müssen, sehe ich trotzdem nicht, was ich dazu beitragen kann. Ich habe nicht die Anlage, mit der ich lange genug online bleiben könnte, um durch den Abwehrwall zu dringen, mit dem dieses … Otherland bestimmt gesichert ist.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich bin ziemlich ratlos, wie ich weitermachen soll.«
»Haben die Leute alle Sachen der Frau Doktor zertrümmert, die ihr gebrauchen könntet?« fragte Jeremiah. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich alles verstanden habe, was ihr mir erzählt habt, aber ich weiß, daß Doktor Van Bleeck nichts dagegen hätte, wenn ihr einfach alles benutzt, was euch helfen kann.«
Renie lächelte traurig. »Du hast ja gesehen, wie das Labor zugerichtet wurde. Diese Dreckskerle haben dafür gesorgt, daß niemand mehr irgendwas davon benutzen kann.«
Ihr Vater schnaubte zornig. »So machen die das. So machen die das immer. Wir schmeißen die Afrikaanderschweine aus der Regierung raus, und der schwarze Mann kriegt trotzdem keine Gerechtigkeit. Niemand hilft meinem Jungen! Meinem … Stephen!« Seine Stimme versagte, und er legte eine seiner großen schwieligen Hände vors Gesicht, bevor er sich vom Feuer abwandte.
»Wenn jemand einen Weg finden kann, ihm zu helfen, dann ist es deine Tochter«, sagte !Xabbu nachdrücklich. »Sie hat einen starken Willen, Herr Sulaweyo.«
Renie staunte über die Bestimmtheit seiner Worte, aber der kleine Mann erwiderte ihren Blick nicht. Ihr Vater gab keine Antwort.
Jeremiah entkorkte eine zweite Flasche Wein, und das Gespräch wandte sich langsam und etwas schwerfällig anderen Themen zu. Auf einmal fing Long Joseph leise zu singen an. Renie bemerkte zunächst nur ein dumpfes Brummen, das sie nicht weiter beachtete, aber nach und nach wurde es lauter.
»Imithi goba kahle, ithi, ithi
Kunyakazu ma hlamvu
Kanje, kanje
Kanje, kanje«
Es war ein altes Zulu-Kinderlied, das Long Joseph schon von seiner Großmutter gelernt hatte, eine einfache, beschwingte Melodie, sanft wie der Wind, um den es in dem Lied ging. Renie hatte es früher mehrmals gehört, aber jetzt schon lange nicht mehr.
»Alle Bäume neigen sich
Hierhin, dorthin,
Alle Blätter zittern
So und so,
So und so.«
Eine Erinnerung aus Kindertagen stieg in ihr auf, aus einer Zeit vor Stephens Geburt, als sie und ihre Eltern einmal mit dem Bus zur ihrer Tante in Ladysmith gefahren waren. Ihr war schlecht geworden, und sie hatte sich an die Mutter gekuschelt, während der Vater ihr Lieder vorgesungen hatte, und nicht nur das »Kanje,
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