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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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die schwankende Strickleiter und kletterte los. In halber Höhe unter dem wartenden Luftschiff erfaßte ihn eine Art seelischer Schwindel, und er hielt inne. Irgend etwas an dieser Situation, daß er aus einer kaum verstandenen Umgebung in die nächste, noch unbegreiflichere Zuflucht enteilte, kam ihm tragisch bekannt vor.
    »Hätten Sie die Güte weiterzuklettern«, bemerkte Bagwalter höflich von unten. »Ich werde nicht mehr jünger und wäre eigentlich gern so bald wie möglich von dieser Leiter runter.«
    Paul schüttelte sich und stieg weiter. Brummond wartete oben und zog ihn mit einem Ruck über die Reling.
    »Was halten Sie von diesem kleinen Schmuckstück, hä, Jonas?« fragte er. »Ich hab Ihnen doch gesagt, ich hätte hier und da einen Gefallen gut. Kommen Sie, ich zeig Ihnen alles. Es ist ein prachtvolles Stück Arbeit, so schnell wie ein Vogel und so leise, wie Gras wächst. Damit kriegen wir die Sache hin, Sie werden sehen.«
    »Welche Sache?« Paul wurde es langsam leid, ständig Fragen zu stellen.
    »Welche Sache?« Brummond war wie vor den Kopf geschlagen. »Mensch, wir wollen Ihre Verlobte retten! Im Morgengrauen kommt sie in eine Sonderzelle unter dem Palast des Sumbars, und dann ist es zu spät, deshalb holen wir sie heute nacht raus! Nur ein Dutzend Wachen, und wahrscheinlich werden wir nicht mehr als die Hälfte töten müssen.«
    Bevor Paul mehr tun konnte, als den Mund auf- und wieder zuzumachen, war Brummond schon an das merkwürdig geformte, kunstvoll geschnitzte Steuerrad des Luftschiffs gesprungen. Er zog daran, und das Schiff stieg so prompt in die Höhe, daß Paul beinahe von seinem Sitz gefallen wäre. Die Stadt entschwand unter ihnen.
    »Für die Ehre Ihrer Dame, Jonas!« brüllte Brummond. Sein goldenes Haar flatterte im starken Gegenwind ihres Aufstiegs, und sein Grinsen war ein schimmernder Fleck in der Dämmerung. »Für die Ehre unserer guten alten Erde!«
    Mit wachsendem Unbehagen begriff Paul, daß sie in der Hand eines Wahnsinnigen waren.

Kapitel
Hunger
    NETFEED/NACHRICHTEN:
    »Snipe«-Verfahren eingestellt – Staatsanwältin schlägt Alarm
    (Bild: Azanuelo auf einer Pressekonferenz)
    Off-Stimme: Die Bezirksstaatsanwältin von Callas County Carmen Azanuelo erklärte, die Rückzieher und das Verschwinden von Zeugen, mit denen sie ihre spektakuläre Mordanklage hatte stützen wollen, seien »das deutlichste Beispiel für die Unterwanderung der Justiz seit dem Crack-Baron-Prozeß«.
    (Bild: Verteidiger bei der Anklageerhebung)
    Die strafrechtliche Verfolgung von sechs Männern, darunter zwei ehemaligen Polizeibeamten, wegen der Ermordung Hunderter von Straßenkindern, oft »Snipes« genannt, löste hitzige Kontroversen aus, weil Aussagen behauptet hatten, städtische Kaufleute hätten die Männer als »Todesschwadron« angeheuert, mit dem Auftrag, die wohlhabenden Gegenden von Dallas/Fort Worth frei von Straßenkindern zu halten.
    (Bild: bettelnde Kinder im Marsalis Park)
    Auch in anderen amerikanischen Städten war es der Anklage nicht gelungen, eine Verurteilung wegen Kindermord zu erreichen.
    Azanuelo: »Sie haben unsere Zeugen bedroht, gekidnappt oder getötet, häufig mit Hilfe von Elementen innerhalb der Polizei. Sie ermorden Kinder auf den Straßen Amerikas, ohne daß jemand sie zur Rechenschaft zieht. Das ist der schlichte Tatbestand …«
     
     
    > »Meine Güte, Papa, hörst du jetzt vielleicht mal auf zu meckern?«
    »Ich mecker doch nich. Ich frag bloß.«
    »Immer und immer wieder.« Renie holte Luft und bückte sich dann, um den Riemen am Koffer noch einmal festzuziehen. Wenige ihrer Habseligkeiten hatten den Brand überstanden, und in den Wirrnissen der jüngsten Ereignisse war Renie nicht zum Einkaufen gekommen, aber immer noch schienen sie mehr Dinge als Platz zu besitzen. »Wir sind hier in dieser Unterkunft nicht sicher. Jeder kann uns finden. Wir sind in Gefahr, Papa, das hab ich dir schon hundertmal gesagt.«
    »Das is der größte Blödsinn, den ich je gehört hab.« Er verschränkte die Arme über der Brust und schüttelte heftig den Kopf, wie um die ganze Vorstellung ins Nichts zu verbannen, wo sie hingehörte.
    Renie verspürte den starken Drang, aufzugeben, das Kämpfen sein zu lassen. Vielleicht sollte sie sich einfach neben ihren Vater setzen und mit ihm zusammen die wirkliche Welt wegwünschen. Halsstarrig zu sein, gab einem eine gewisse Freiheit, die Freiheit, unangenehme Wahrheiten zu ignorieren. Aber irgend jemand mußte diese Wahrheiten endlich

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