Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
Über den … größeren Hunger.«
    »Du kannst mich nennen, wie du lustig bist, Mädel«, bemerkte ihr Vater mit gebieterischer Endgültigkeit. »Aber auf meinen Teller tust du das Zeug nich.«
    »Alle Menschen kennen den größeren Hunger.« !Xabbu deutete auf die Figuren der Felsmalerei. »Nicht nur die Menschen, die dort tanzen, sondern auch die Menschen, die die Tänzer malten, und alle, die das Bild jemals angeschaut haben. Es ist der Hunger nach Wärme, nach Geborgenheit, nach einer Verbindung zu den Sternen und zur Erde und anderen Lebewesen…«
    »Nach Liebe?« fragte Renie.
    »Ja, ich denke, das könnte stimmen.« !Xabbu war nachdenklich. »Meine Leute würden es nicht so ausdrücken. Aber wenn mit dem Wort das gemeint ist, was uns froh macht, daß jemand anders da ist, was es besser macht, in Gesellschaft als allein zu sein, dann ja. Es ist ein Hunger in dem Teil eines Menschen, der mit Essen oder Trinken nicht satt zu bekommen ist.«
    Renie wollte ihn fragen, warum er sich gerade diesen Tanz ausgesucht hatte, aber hatte den Verdacht, es könnte unhöflich sein. Trotz seiner Robustheit an Leib und Seele hatte der kleine Mann etwas, das in Renie einen unbeholfenen Beschützerinstinkt auslöste. »Es war ein sehr schöner Tanz«, sagte sie schließlich. »Schön anzuschauen.«
    »Danke. Es ist gut, unter Freunden zu tanzen.«
    Ein nicht unbehagliches Schweigen legte sich über den Raum. Renie fand, es müßte gehen, das Geschirr bis zum anderen Tag stehenzulassen, und erhob sich, um zu Bett zu gehen. »Vielen Dank, Jeremiah, daß du uns aufgenommen hast.«
    Jeremiah Dako nickte, ohne aufzublicken. »Schon gut. Gern geschehen.«
    »Und Papa, vielen Dank für das Lied.«
    Er sah mit einem eigentümlichen, halb sehnsüchtigen Ausdruck zu ihr auf und lachte dann. »Ich versuch bloß, meinen Teil zu tun, Mädel.«
     
    Unruhig und nervös wachte sie immer wieder aus dem Halbschlaf auf. Sie wußte, daß bei den vielen ungelösten Problemen, die es gab, jede Minute Ruhe kostbar war, aber konnte nichts dagegen machen: Der tiefe Schlaf und das erlösende Vergessen, das er brachte, wollten einfach nicht kommen. Zuletzt kapitulierte sie und setzte sich auf. Sie knipste das Licht an, dann knipste sie es wieder aus, die Dunkelheit war ihr lieber. Etwas, was !Xabbu gesagt hatte, ging ihr immer wieder durch ihren fieberhaft arbeitenden Kopf wie der Refrain eines Liedes: … das, was uns froh macht, daß jemand anders da ist, was es besser macht, in Gesellschaft als allein zu sein.
    Aber was konnten sie und ein Häuflein anderer in so einer Situation schon ausrichten? Und warum überhaupt sie – warum übernahm nicht jemand anders mal die Verantwortung?
    Sie dachte an ihren Vater nur zwei Türen weiter, und nur der angenehme Abend, den sie gerade verlebt hatten, machte es ihr möglich, eine heiße Woge der Erbitterung zu unterdrücken. Ganz gleich, wie hart sie gearbeitet hatte und wie wenig Schlaf sie in dieser Nacht bekam, er würde sofort losnörgeln, wenn gleich nach dem Aufstehen nicht das Frühstück für ihn bereitstand. Er war es gewöhnt, bedient zu werden. Das war die Schuld ihrer Mutter, die Kapitulation vor, nein, die Kollaboration mit einer überlebten Klischeevorstellung von der Rolle des afrikanischen Mannes. So mußte es vor langer Zeit gewesen sein: Die Männer hockten um das Feuer herum und prahlten von einer Gazelle, die sie drei Wochen vorher erlegt hatten, während die Frauen Nahrung sammelten, Kleider nähten, kochten, sich um die Kinder kümmerten. Ja, und sich um die Männer kümmerten, die im Grunde selber Kinder waren und immer gleich beleidigt, wenn sie nicht der Mittelpunkt des Universums waren… Sie war voller Wut, merkte sie. Wut auf ihren Vater und auch auf Stephen, weil… weil er von ihr fortgelaufen war, obwohl sie es furchtbar fand, auf ihn wütend zu sein. Aber sie war wütend, fuchsteufelswild geradezu, daß er sie verlassen hatte, daß er da in diesem Krankenhaus lag, stumm und reaktionslos, unzugänglich für ihre ganze Liebe, ihren ganzen Schmerz.
    Wenn ihre Mutter nicht gestorben wäre, wäre es dann anders gekommen? Renie versuchte sich ein Leben vorzustellen, in dem jemand anders die Last getragen hätte, aber der Gedanke wollte sich einfach nicht real anfühlen. Eine normale Jugend – wenigstens in dem Sinne normal, wie man das Wort anderswo gebrauchte –, keine anderen Sorgen als Lernen und Freunde? Ein Sommerjob, wenn sie einen haben wollte, statt einer vollen Stelle neben

Weitere Kostenlose Bücher