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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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dem Studium her? Aber es war eine rein theoretische Spielerei, sich ein solches Leben auszumalen, weil die Frau, die auf diese Art groß geworden wäre, die die letzten zehn Jahre über ein solches Leben geführt hätte, nicht mehr sie wäre. Eine andere Renie, eine aus der Welt hinter Alice’ Spiegel.
    Ihre Mutter Miriam, langgliedrig und zart. Sie hätte nicht fortgehen sollen. Wenn sie niemals in das Kaufhaus gegangen wäre, wäre heute alles besser. Allein ihr offenes Lachen, von dem ihr dunkles Gesicht plötzlich überraschend erstrahlen konnte, als ob eine Hand aufgegangen wäre und ein wunderschönes Geschenk hinhielte, hätte Renie das Gefühl gegeben, nicht so allein zu sein. Aber Mama und ihr Lachen waren nur noch Erinnerungen, die jedes Jahr blasser wurden.
    … Besser als allein zu sein, hatte !Xabbu gesagt. Aber war das nicht mit ihr Problem? Daß sie nie allein war, daß statt dessen die Menschen um sie herum ständig von ihr erwarteten, etwas zu tun, was sie selber nicht tun konnten?
    Sie ihrerseits jedoch erbat sich nichts. Es war einfacher, stark zu sein – im Grunde verhalf es ihr dazu, stark zu bleiben. Wenn sie zugab, daß sie Hilfe brauchte, konnte sie ihre Fähigkeit verlieren, mit allem fertigzuwerden.
    Aber ich brauche Hilfe. Ich kann das nicht allein bewältigen. Ich weiß nicht mehr weiter.
     
    »Ich tue mein Bestes, um eine Lösung zu finden, Renie.« Martine klang nicht sehr hoffnungsvoll. »Eine Anlage von der Art, wie Singh gemeint hat, kostet sehr viel Geld. Ich würde dir Geld leihen, aber es wäre nicht annähernd so viel, wie du brauchst. Ich führe ein sehr bescheidenes Leben. Es ist alles in meine Ausrüstung geflossen.«
    Renie starrte auf den leeren Bildschirm und wünschte, sie hätte wenigstens Martines Mona-Lisa-Sim vor sich. Zum Festprogramm des menschlichen Innenlebens gehörte das Bedürfnis, Gesichter anzuschauen und ihnen Informationen zu entnehmen, Anhaltspunkte, schlicht die Bestätigung, daß da draußen ein anderer Mensch war. Bildausfälle in öffentlichen Uplinks war Renie durchaus gewöhnt, aber wenn einmal der Bildschirm nicht funktionierte, unterhielt man sich wenigstens in der Regel mit jemand, dessen Gesichtszüge man schon kannte. Martines Großzügigkeit rührte sie, aber sie tat sich immer noch schwer, eine Verbindung zu fühlen. Wer war diese Frau? Wovor versteckte sie sich? Und was das Allermerkwürdigste war bei einer Frau, der ihre Privatsphäre derart heilig war: Warum hatte sie derart auf diesen Otherland-Irrsinn angebissen?
    »Ich weiß, daß es nicht leicht sein wird, Martine, und ich bin dir wirklich dankbar für deine Hilfe. Ich kann Stephen nicht einfach kampflos aufgeben. Ich muß herausfinden, was ihm zugestoßen ist. Wer es getan hat und warum.«
    »Und wie geht es dir, Renie?« fragte Martine unvermittelt.
    »Was? Oh, gut. Etwas konfus bin ich. Müde.«
    »Aber innerlich. Wie sieht es in dir aus?«
    Renie erschien die Leere des Bildschirms auf einmal als etwas anderes – als das dunkle Fenster des Beichtstuhls. Sie war drauf und dran, der Französin alles zu erzählen, ihre obsessiven Ängste um Stephen, das absurde Bemuttern ihres Vaters, ihre sehr reale panische Angst vor den Kräften, mit denen sie sich offenbar eingelassen hatten. Dies alles lastete auf ihr wie ein einsturzgefährdetes Dach, und es wäre eine Wohltat, sich bei jemand darüber Luft machen zu können. Es gab Augenblicke, in denen sie das Gefühl hatte, die andere Frau könnte trotz des Geheimnisses, mit dem sie sich bewußt umgab, eine echte Freundin sein.
    Aber Renie war nicht bereit, ihr so tief zu vertrauen, auch wenn sie vielleicht schon ihr Leben sehr weitgehend in Martines Hände gelegt hatte. Es gab eine feine Grenze zwischen gewöhnlicher Verzweiflung und dem völligen Verlust der Selbstkontrolle.
    »Gut, gut. Müde, wie gesagt. Ruf mich an, wenn du auf etwas stößt. Oder wenn du von unserm Einsiedlerfreund hörst.«
    »Na schön. Gute Nacht, Renie.«
    »Nochmal vielen Dank.«
    Mit dem Gefühl, wenigstens etwas getan zu haben, legte sie sich wieder hin.
     
     
    > Als sie am Morgen in ihrem Benutzerkonto in der TH nachsah, warteten dort mehrere Mitteilungen betreffend ihre Suspendierung auf sie, eine Benachrichtigung über die Aufhebung ihres Mailzugriffsrechts, der Termin einer Vorverhandlung, das Ersuchen um Aushändigung diverser Systemcodes und Dateien – und eine, die als »persönlich« gekennzeichnet war.
    »Renie, ruf mich doch bitte an.« Del Ray hatte

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