Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
kanje«. Sie erinnerte sich, daß sie sich noch leidend gestellt hatte, als es ihr schon wieder besser ging, nur damit er weitersang.
Long Joseph wiegte sich leicht hin und her, während seine Finger an den Schenkeln spinnenartig den Rhythmus klopften.
»Ziphumula kanjani na
Izinyone sidle keni«
»Seht wie sie ruhen
An diesem sonnigen Tag,
Die schönen Vögel
In ihren frohen Nestern …«
Aus dem Augenwinkel sah Renie eine Bewegung. !Xabbu hatte angefangen, vor dem Feuer zu tanzen. Er beugte und streckte sich im Takt zu Long Josephs Lied, die Arme erst steif und leicht gebeugt abgespreizt, dann wieder angelegt. Der Tanz hatte einen eigenartigen Rhythmus, der befremdlich und besänftigend zugleich war.
»Imithi goba kahle, ithi, ithi
Kunyakazu ma hlamvu
Kanje, kanje
Kanje, kanje«
»Kinder, Kinder, Kinder, kommt heim,
Kinder, Kinder, Kinder, kommt heim,
Kinder, Kinder, Kinder, kommt heim …«
Das Lied zog sich lange hin. Schließlich verstummte ihr Vater, dann blickte er sich im Feuerschein des Zimmers um und schüttelte den Kopf, als käme er gerade aus einem Wachtraum zurück.
»Das war sehr, sehr schön, Papa.« Sie sprach langsam und überlegt, weil ihr Kopf vom Wein und vom Essen ganz schwer war: sie wollte nichts Falsches sagen. »Es ist schön, dich singen zu hören. Ich hab dich lange nicht mehr singen gehört.«
Er zuckte leicht verlegen mit den Schultern und lachte dann scharf. »Na ja, dieser Mann hier hat uns in dies große Haus eingeladen, und meine Tochter hat was zu Abend gekocht. Da dacht ich, ich bin dran mit Kostgeld zahlen.«
Jeremiah, der sich vom Feuer weggedreht hatte, um zuzuhören, nickte ernst, als fände er den Handel in Ordnung.
»Ich mußte dran denken, wie wir damals zu Tante Tema gefahren sind. Erinnerst du dich noch?«
Er grunzte. »Hat’n Gesicht gehabt wie ’ne holprige Straße. Das ganze hübsche Aussehen in der Familie hat deine Mama abgekriegt.« Er stand auf. »Ich hol noch’n Bier.«
»Und dein Tanzen war auch wunderschön«, sagte Renie zu !Xabbu . Sie wollte ihm eine Frage stellen, aber zögerte, weil sie Angst hatte, gönnerhaft zu klingen. Mein Gott, dachte sie, ich stell mich wie eine Ethnologin an, nur um mit meinem Vater und meinem Freund zu reden. Nein, das stimmt nicht, !Xabbu ist bei weitem nicht so leicht zu kränken. »War das ein bestimmter Tanz?« fragte sie schließlich. »Hat er einen Namen, meine ich? Oder hast du einfach so getanzt?«
Der kleine Mann lächelte, daß seine Augen nur noch ganz feine Schlitze waren. »Ich habe einige der Schritte vom Tanz des größeren Hungers getanzt.«
Long Joseph kam mit zwei Flaschen zurück und bot eine !Xabbu an, aber der schüttelte den Kopf. Long Joseph setzte sich hin, eine Flasche in jeder Hand und sichtlich zufrieden damit, wie seine guten Manieren belohnt wurden. Der kleine Mann erhob sich, ging zu dem Foto an der Wand und fuhr eine der farbigen Figuren mit dem Finger nach. Er drehte sich um. »Wir haben zwei Hungertänze. Der eine ist der Tanz des kleinen Hungers. Er handelt vom Hunger des Körpers, und wir tanzen ihn, um Geduld zu erbitten, wenn unsere Mägen leer sind. Aber wenn wir satt sind, brauchen wir diesen Tanz nicht – nach so einem guten Essen wie heute abend wäre er sogar ausgesprochen unhöflich.« Er lächelte Renie an. »Aber es gibt einen Hunger, der nicht dadurch gestillt wird, daß man sich den Magen füllt. Weder das Fleisch der fettesten Elenantilope noch die saftigsten Ameiseneier können etwas dagegen ausrichten.«
»Ameiseneier?« fragte Long Joseph mit übertriebener Entrüstung. »Ihr eßt Eier von so ’nem Insekt?«
»Ich habe sie viele Male gegessen.« Ein leises Lächeln spielte um !Xabbus Lippen. »Sie sind weich und süß.«
»Kein Wort weiter.« Long Joseph verzog das Gesicht. »Mir wird schlecht, wenn ich bloß dran denke.«
Jeremiah stand auf und streckte sich. »Aber es ist nicht verrückt, Vogeleier zu essen? Fischeier?«
»Sprich für dich selber. Ich esse keine Fischeier nich. Und Vogeleier bloß von Hühnern, und das ist ganz natürlich.«
»Wenn man in der Wüste lebt, darf man nichts ausschlagen, was sich gefahrlos essen läßt, Herr Sulaweyo.« !Xabbus Lächeln wurde breiter. »Aber natürlich mögen wir manche Sachen lieber als andere. Und Ameiseneier gehören zu unseren Lieblingsspeisen.«
»Papa ist bloß heikel«, erklärte Renie. »Und immer bei den falschen Sachen. Aber erzähl mir bitte mehr über den Tanz.
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