Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
sein Gesicht kurz vor dem Anruf frisch rasiert gehabt und sah aus, als ob er auf dem Weg zu einer wichtigen Sitzung wäre. Sein Bart wuchs schneller als bei jedem anderen Mann, den sie je kennengelernt hatte. »Ich mach mir Sorgen um dich.«
Sie mußte gegen das instinktive kleine Hüpfen im Magen ankämpfen. Was hatte das schon zu besagen, »Sorgen«? Eine Floskel, die man bei jeder alten Freundin anwenden würde, die gerade ihre Stelle verloren hatte. Er hatte jetzt eine Frau – wie hieß sie noch gleich? Blossom, Daisy, irgendwas Albernes in der Art –, da konnte es ihr sowieso egal sein. Unter ihre Gefühle für Del Ray hatte sie schon vor langer Zeit einen Strich gezogen. Sie mußte ihn nicht zurückzuhaben. Zumal sie bei all den anderen Sachen, die ihre Aufmerksamkeit beanspruchten, gar nicht gewußt hätte, wohin mit ihm.
Sie sah kurz das Bild eines Del-Ray-Bordes im Regal ihres neuen Zimmers mit der Stoffpuppentapete vor sich und gestattete sich ein Lachen, einfach um sich lachen zu fühlen und zu hören.
Renie zündete sich eine neue Zigarette an, nippte an ihrem Glas Wein – ein nachmittäglicher Luxus, den man sich als frisch Entlassene ja leisten konnte – und blickte über den Sicherheitszaun auf die umliegenden Hügel von Kloof. Sollte sie ihn zurückrufen? Er hatte bis jetzt nichts zu berichten gehabt, was der Rede wert gewesen wäre, und seine Mitteilung klang nicht so, als verspräche er neue Informationen. Andererseits konnte es sein, daß er etwas über dieses Otherland wußte oder, noch besser, eine Stelle kannte, über die sie Zugang zu einer professionellen VR-Anlage bekommen konnte. Irgend etwas mußte sie bald unternehmen. Wenn sie gezwungen war aufzugeben, konnte sie vor dem Untersuchungsausschuß der TH nichts anderes vortragen als überdreht klingende Behauptungen. Ganz zu schweigen davon, daß Singh, ein alter Mann, der allem Anschein nach auf der Abschußliste stand, dann ganz auf sich allein gestellt wäre.
Und Stephen. Wenn sie jetzt aufgab, gab sie auch Stephen auf, und er würde für alle Zeit schlafen wie eine Prinzessin im Märchen, allerdings ohne jede Hoffnung auf einen Prinz, der sich für den lebenspendenden Kuß seinen Weg durch die Dornenhecke bahnte.
Renie stellte den Wein ab, der ihr plötzlich einen sauren Magen machte. Das ganze Schlamassel schien hoffnungslos zu sein. Sie zerdrückte ihre Zigarette, um sich gleich darauf die nächste anzustecken, denn sie hatte beschlossen, Del Ray zurückzurufen. Im letzten Moment, als ihr Pad schon die Verbindung zur UNComm-Zentrale herstellte, gehorchte sie einer warnenden inneren Stimme und stellte die Bildübertragung aus.
Sein Assistent war kaum aus der Leitung gegangen, als Del Ray schon auf dem Bildschirm erschien. »Renie, bin ich froh, daß du anrufst! Ist mit dir alles in Ordnung? Ich hab kein Bild.«
Sie ihrerseits sah ihn sehr wohl. Er wirkte ein wenig gehetzt. »Mir geht’s gut. Ich … es ist irgendwas mit meinem Pad, weiter nichts.«
Er zögerte einen Moment. »Oh. Na, egal. Sag mir, wo du bist. Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.«
»Wo ich bin?«
»Du bist mit deinem Vater aus der Unterkunft ausgezogen. Ich hab versucht, dich in der TH zu erreichen, aber dort hieß es, du wärst beurlaubt.«
»Ja. Hör mal, ich muß dich wegen einer Sache was fragen.« Sie hatte Otherland schon auf den Lippen, als sie stockte. »Woher weißt du, daß wir nicht mehr in der Unterkunft sind?«
»Ich … ich bin hingegangen. Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.«
Sie wehrte sich gegen das dumme, mädchenhafte Herzflattern. Irgend etwas an der Sache machte sie argwöhnisch. »Del Ray, sagst du die Wahrheit? Du bist durch die ganze Stadt zu dieser Unterkunft gefahren, bloß weil ich beurlaubt bin?«
»Du hast nicht auf meinen Anruf reagiert.« Das war ein einfacher Grund, aber Del Ray sah angespannt und unglücklich aus. »Sag mir einfach, wo du bist, Renie. Vielleicht kann ich dir irgendwie helfen. Ich habe Freunde – möglicherweise kann ich einen sichereren Aufenthaltsort für euch finden.«
»Wir sind sicher, Del Ray. Du brauchst dir keine Umstände zu machen.«
»Verdammt nochmal, Renie, das ist kein Witz.« Es schwang noch etwas anderes in seiner Stimme als Gereiztheit. »Sag mir endlich, wo du bist. Sofort! Und daß dein Pad kaputt ist, glaub ich dir auch nicht.«
Renie schnappte verdutzt nach Luft. Sie fuhr mit den Fingern über den Sensorbildschirm. Das Sicherheitsgear, das Martine ihr geschickt hatte,
Weitere Kostenlose Bücher