Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
mit abstrakten, aber rasch wechselnden Figuren und stellte den Ton in seinem Kopf lauter, bis er den Baß in seinem Kieferknochen pulsen fühlen konnte. Er sah ein Weilchen zu, wie die Bilder vorbeiflackerten, dann begutachtete er sich abermals im Spiegel. Es lag etwas Raubtierhaftes in seinen langen, muskulösen Gliedern, in der Unbewegtheit seiner Gesichtszüge, das ihn erregte. Er kannte dieses Gesicht. Er hatte diesen Film schon einmal gesehen. Er wußte, was jetzt passieren würde.
Auf dem Weg ins Badezimmer streute er ein paar dissonante Trompetenstöße in die Musik ein, schneidende Töne, die wachsende Spannung andeuteten. Er stellte sie leiser, als er die Tür öffnete.
Ein Kamerazoom …
Ihre Handgelenke waren immer noch mit Klebstreifen an den Duschkopf gefesselt, aber sie stand nicht mehr aufrecht. Ihre Knie waren eingeknickt, so daß das ganze Gewicht in einer Weise an den langgezogenen Armen hing, die ihr Schmerzen bereiten mußte. Als sie ihn erblickte, schrie sie auf und fing wieder an zu zappeln, aber der Streifen auf ihrem Mund machte aus dem Schrei ein dumpfes Blöken.
»Ich habe dich verfolgt«, sagte er und setzte sich auf den Rand der Badewanne. In seinem Kopf, mit der unterlegten Musik, hatte seine Stimme einen tiefen, großmächtigen Klang. »Ich habe dein Taxi verfolgt, bis du bei deinem Hotel warst. Danach war es nicht sehr schwierig, dein Zimmer zu finden … Gloriana.« Er streckte die Hand aus, um ihr Namensschild zu berühren, und sie fuhr zurück. Er lächelte und fragte sich dabei, ob ihr auffiel, daß es dasselbe Lächeln war, das er schon im Flugzeug benutzt hatte. »Normalerweise hätte ich mir eine etwas längere Jagd gegönnt, ein bißchen mehr sportliche Herausforderung. Dafür bist du doch schließlich da, nicht wahr – die Nöte des gestreßten Geschäftsreisenden zu lindern? Aber dich dort in deinem eigenen Koffer rauszuholen und hier hochzubringen … na, ich würde sagen, für eine spontane Improvisation war das ziemlich gut, meinst du nicht auch?«
Ihre Augen wurden weit, und sie versuchte etwas zu sagen, aber der Klebstreifen würgte es ab. Sie zerrte am Duschkopf und taumelte hin und her. Ihre blonden Haare, vor sechs Stunden noch so makellos gestylt, hingen ihr in glatten, verschwitzten Strähnen herab.
Er langte nach dem Namensschild und riß es ab. Es war eins von der elektrostatischen Sorte, ohne interessante scharfe Teile, und darum warf er es weg. »So, Süße«, sagte er, »deinen Namen weiß ich, aber nach meinem hast du gar nicht gefragt.« Er stand auf und ging aus dem Bad, wobei er die Musik in seinem Kopf so verlangsamte, bis sie wie ein Trauermarsch unter Wasser klang, tief und schwer und voll. Er kam mit dem Werkzeugkoffer zurück.
»Ich heiße Dread.« Er machte den Koffer auf und holte eine Zange und eine Feile heraus. »So, jetzt wollen wir dich aus dieser häßlichen Uniform herausholen.«
> Christabel sorgte sich. Sie brauchte lange für die Fahrt zu der Stelle, die Herr Sellars ihr gesagt hatte. Was war, wenn Frau Gullison zum Haus ihrer Freundin nachschauen kam? Was war, wenn dann die Eltern ihrer Freundin zuhause waren? Dann war sie echt in Schwierigkeiten, und die würden noch schlimmer werden, wenn ihr Papi davon erfuhr.
Bei dem Gedanken, wie böse ihr Vater wäre, schloß sie die Augen. Dabei kam sie vom Bürgersteig ab und wäre fast gestürzt, als ihr Fahrrad auf die Straße rumste und ihr Vorderrad ganz doll flatterte. Sie trat fester, bis das Rad wieder gerade fuhr. Sie hatte Herrn Sellars versprochen, daß sie ihm helfen würde, also mußte sie auch.
Der Ort, zu dem sie fahren sollte, war am äußeren Rand des Stützpunkts, wieder ein Teil, den sie noch nie gesehen hatte. Er lag weit hinter dem Sportplatz – sie sah Männer in weißen Shorts und Hemden, die Übungen auf dem Rasen machten. Musik und eine Stimme, die sie nicht verstehen konnte, weil sie zu weit weg war, tönten aus Lautsprechern an Stangen neben dem Platz. An dem Ort, den Herr Sellars ihr gesagt hatte, waren viele Bäume und Sträucher auf dieser Seite des Zaunes und Bäume und Sträucher auf der anderen Seite des äußeren Zaunes, aber dazwischen keine. Die leere Fläche zwischen den beiden Zäunen sah aus, wie wenn sie mit ihrem Radierer über ein Bild rieb, das sie gezeichnet hatte.
Herr Sellars hatte ihr geraten, sich eine Stelle auszusuchen, wo sie Bäume im Rücken hatte, damit niemand sah, was sie machte. Nach ein bißchen Herumgucken hatte sie eine
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