Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Zeit. »Stimmt, Daniel. Ich habe es nur getan, um dir eins auszuwischen.«
Yacoubian nickte, aber schaute Wells nicht an. Seine Stimme war sehr, sehr ruhig. »Dacht ich mir. Ein Punkt für dich, Bob.«
> Er war noch nie gern geflogen. Er tat es einigermaßen häufig und war sich darüber im klaren, daß es selbst bei den überfüllten Luftwegen der modernen Zeit womöglich die sicherste Art zu reisen war. Aber das konnte den primitiveren Teil seiner Seele nicht beruhigen, den Teil, der keiner Erfahrung traute, die er nicht mit den eigenen Händen und dem eigenen Verstand kontrollieren konnte.
Das war es: Er hatte keine Kontrolle. Wenn ein Blitz die Skywalker beim Start oder beim Landen traf – in der Flughöhe der Maschine von 32 000 Meter waren Gewitter kein Problem –, konnte er nichts dagegen machen. Er konnte so viele Leute umbringen, wie er wollte, konnte die elektronischen Geräte mit dem eigenartigen Dreh stören, den er von seinen längst verstorbenen Eltern geerbt hatte (ob von Vater oder Mutter war nicht mehr zu ermitteln), aber damit konnte er trotzdem keinen verunglückenden suborbitalen Passagierjet chinesischer Bauart zwingen, seinem Willen zu gehorchen.
Dread kaute an diesem und ähnlichen bitteren Gedanken, weil die Höhenaufgabe beim Anflug auf Cartagena rauh war. Das große Flugzeug hatte die ganze letzte Viertelstunde gerüttelt und geschlingert. Ein tropisches Gewitter, hatte der Qantas-Kapitän ihnen mit eingespielter rauhbeiniger Nonchalance mitgeteilt, mache im ganzen Karibikbecken ein bißchen Wirbel, und der Sinkflug würde ein bißchen holperig werden. Trotzdem sollten sie sich auf keinen Fall die Lichter von Bogota entgehen lassen, die jeden Moment linkerhand vorbeiziehen würden.
Als der Kapitän mit seinen touristischen Ratschlägen fertig war und vom Sitzbildschirm verschwand, sackte das Flugzeug abermals ab und schüttelte sich wie ein verwundetes Tier. Nervöses Gelächter ertönte über dem Brummen der Motoren. Dread ließ sich tiefer in seinen Sitz sinken und umklammerte die Lehnen. Er hatte seine innere Musik ausgeschaltet, da das Abspielen seines Soundtracks nur unterstrichen hätte, daß er hilflos war, daß er im Augenblick durchaus nicht die Regie bei seinem Film führte. In Wahrheit konnte er überhaupt nichts tun, um sich besser zu fühlen. Er mußte einfach durchhalten und das Beste hoffen. Das gleiche wie immer, wenn er für den alten Dreckskerl arbeitete.
Der nächste Achterbahnsturz. Dread biß die Zähne zusammen. Galle kratzte hinten in seinem Rachen. Der Gipfel der Gemeinheit war, daß der alte Mann, der Pseudogott, dessen Reichtum zweifellos Dreads Vorstellungsvermögen überstieg, seinen Angestellten immer noch zwang, zivil zu fliegen.
»Estás enfermo, señor?« fragte jemand.
Er schlug die Augen auf. Eine hübsche junge Frau mit rundem Gesicht und goldenen Haaren hatte sich mit einer Miene professioneller und doch aufrichtiger Fürsorge über ihn gebeugt. Auf ihrem Namensschild stand Gloriana. Etwas an ihr kam ihm seltsam bekannt vor, aber es war nicht ihr Name. Es war auch nicht der unangenehm spartanische Jumpsuit, den sie anhatte, eine Mode für das Kabinenpersonal, von der er hoffte, daß sie bald vorbeiging.
»Es geht«, sagte er. »Ich vertrage nur das Fliegen nicht besonders gut.«
»Oh.« Sie war ein wenig überrascht. »Du bist auch Australier!«
»Vom Scheitel bis zur Sohle.« Bei seinem ungewöhnlichen Erbgut wurde er häufig für einen Lateinamerikaner oder Zentralasiaten gehalten. Er lächelte sie an, innerlich immer noch mit der Frage beschäftigt, warum ihre Erscheinung ihn an etwas zu erinnern schien. Das Flugzeug wackelte wieder. »Gott, ich hasse es«, sagte er lachend. »Mir ist nie wohl, ehe wir nicht gelandet sind.«
»In ein paar Minuten sind wir unten.« Sie lächelte und tätschelte seine Hand. »Keine Bange.«
Die Art, wie sie es sagte, und das erneute Lächeln holten plötzlich die Erinnerung aus der Versenkung. Sie sah aus wie die junge Kindergärtnerin, die er einmal gehabt hatte, einer der wenigen Menschen, die je gut zu ihm gewesen waren. Die Erkenntnis war von einem süßen Schmerz begleitet, einer unbekannten und leicht verwirrenden Empfindung.
»Vielen Dank.« Er legte einen gewissen Nachdruck in sein Antwortlächeln. Er kannte die Wirkung seines Lächelns aus Erfahrung. Mit das erste, was der Alte Mann getan hatte, war, ihn zum besten Schönheitsdentisten in Sidney zu schicken. »Sehr nett, daß du dich
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