Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
gefunden. Als sie sich umschaute, konnte sie den Sportplatz und irgendwelche Häuser oder anderen Gebäude nicht mehr sehen, obwohl sie noch die Musik herüberschallen hörte. Sie nahm Ihren Schulranzen aus dem Fahrradkorb, holte die Bolzenschere heraus und legte sie auf den Boden, dann das kleine Scherending und die Rolle Gaze. Sie nahm die kleine Schere und trat an den Zaun, der aus etwas beinahe Stoffartigem bestand, mit kleinen Kästen obendrauf, die leise klickten. Hinter dem äußeren Zaun, weit weg, trieb Rauch von Lagerfeuern in die Luft empor. Etliche Leute lebten dort draußen unter den Bäumen – sie sah sie, wenn sie mit ihren Eltern vom Stützpunkt herunterfuhr –, und noch mehr lebten unten im Tal am Freeway. Sie bauten sich ihre Behausungen selbst, komische Dinger aus alten Kisten und Stoffbahnen, und ihr Papi sagte, einige von ihnen versuchten sich sogar in den Stützpunkt einzuschleichen und versteckten sich dazu in Müllastern. Sie konnte einige der Kistenbewohner durch den Zaun erkennen, weit entfernt und noch winziger als die Männer auf dem Trainingsplatz hinter ihr, aber durch den Zaun zu schauen war komisch. Alles auf der anderen Seite war irgendwie trübe, wie wenn man seinen Namen innen auf die Autoscheibe schreiben konnte.
Sie setzte die kleine Schere an das Zauntuch an, als ihr einfiel, daß Herr Sellars gesagt hatte, sie sollte es noch nicht durchschneiden. Sie ging zum Fahrradkorb zurück und holte ihre MärchenBrille heraus.
»CHRISTABEL«, stand darin, »WENN DU AM ZAUN BIST, SCHALTE DIE BRILLE ZWEIMAL SCHNELL AUS UND AN.«
Sie dachte einen Moment darüber nach, um es auch ja richtig zu machen, dann drückte sie viermal auf den Knopf am Brillenbügel: aus, an, aus, an. Als das Bild innendrin wieder angegangen war, stand eine neue Mitteilung da.
»ZÄHLE BIS ZEHN UND SCHNEIDE DANN. WENN DU AM ZWEITEN ZAUN BIST, SCHALTE DIE BRILLE WIEDER ZWEIMAL AUS UND AN.«
Christabel war bei sechs, als die Musik vom Sportplatz plötzlich verstummte und die Kästen zu klicken aufhörten. Sie erschrak, aber da niemand kam und sie anschrie, kniete sie sich hin und stieß die Schere in den Zaun. Zuerst ging es schwer, aber als die Spitze plötzlich durchrutschte, war alles andere leicht. Sie schnitt mit der Schere so hoch über ihren Kopf, wie sie kam, hob dann den großen Knipser auf und lief zum zweiten Zaun. Die Musik war immer noch aus, und das Geräusch ihrer Schritte auf dem Boden hörte sich sehr laut an.
Dieser Zaun bestand ganz aus karoförmigen Maschen von dickem Draht, der mit Plastik ummantelt war. Sie schaltete ihre Brille zweimal aus und an.
»SCHNEIDE DEN ZWEITEN ZAUN EINEN DRAHT NACH DEM ANDEREN DURCH, DANN KOMM ZURÜCK. WENN DEINE UHR 14:38 ANZEIGT, KOMM UNTER ALLEN UMSTÄNDEN SOFORT ZURÜCK. VERGISS NICHT DAS STÜCK GAZE.«
Christabel kniff die Augen zusammen. Prinz Pikapik hielt bereits 14:28 zwischen den Pfoten, sie hatte also nicht mehr viel Zeit. Sie setzte die Bolzenschere bei einem der Zaundrähte an und drückte mit beiden Händen. Sie drückte und drückte, bis ihr die Arme richtig weh taten, und schließlich schnappten die Schneideteile des Knipsers zusammen. Sie schaute auf ihre Uhr: 14:31 stand da. Es waren noch viele Drähte übrig, bis das Loch so groß war, wie Herr Sellars gesagt hatte. Sie kniff in den zweiten Draht, aber der schien noch stärker zu sein als der erste, und sie brachte die große Schere einfach nicht durch. Sie fing an zu weinen.
»Wase mach zum Teufel, Tussi? Qué haces?«
Christabel sprang hoch und stieß ein Quieken aus. Jemand beobachtete sie von einem Baum auf der anderen Seite des Zaunes aus.
»N-n-nichts«, sagte sie.
Der Beobachter hüpfte vom Ast herunter. Es war ein Junge, die Haare komisch geschnitten, das Gesicht dunkel und schmutzig. Er sah aus, als wäre er ein paar Klassen über ihr. Zwei weitere Gesichter lugten aus dem Laub des Astes, auf dem er gesessen hatte, ein Junge und ein Mädchen, die jünger waren als er und noch schmutziger. Sie glotzten Christabel mit ihren großen Augen an wie Affen.
»Ise nicht nix, Tussi«, sagte der ältere Junge. »Ise Zaun schneiden. Was soll?«
»Das ist… ein Geheimnis.« Sie starrte ihn an und wußte nicht, ob sie weglaufen sollte. Er war auf der anderen Seite des Zaunes, deshalb konnte er ihr nichts tun, oder doch? Sie schaute auf ihre Otterwelt-Uhr. Sie zeigte 14:33 an.
»Muchachita loca, du bring nie durch. Zu klein, du. Werf rüber.« Er deutete auf die Bolzenschere.
Christabel war
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