Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
kleiner Wahnsinniger, von dem Zeug würd je was in meinen Mund kommen.«
»Papa!«
»Seid ihr schon an der nächsten Straße?« fragte Martine. »Wenn ihr da seid, fahrt daran vorbei und haltet Ausschau nach einer Piste, die links von der Straße abgeht, wie die Zufahrt eines Hauses.«
Jeremiah folgte ihren Anweisungen, und die Verpflegungskontroverse ruhte fürs erste. Ein leichter Nebel besprenkelte mittlerweile die Autoscheiben. Renie hörte in der Ferne Donner grollen.
Die Piste sah sehr schmal aus, aber das lag daran, daß sie nahe der Straße fast zugewachsen war. Sobald sie an den ausladenden Dornensträuchern vorbei waren – die den Lack des Ihlosi so gründlich verkratzten, daß Jeremiah schon wieder den Tränen nahe war –, befanden sie sich auf einer breiten und überraschend festen Straße, die im Zickzack steil ins Gebirge hinaufführte.
Renie sah den dichten Wald vorbeiziehen. Fackellilien, im Volksmund »rote Schürhaken« genannt, stachen leuchtend wie Feuerwerkskörper von dem Grau ab. »Sieht aus wie ein Naturschutzgebiet. Aber es waren keine Schilder da. Von Zäunen ganz zu schweigen.«
»Es ist staatliches Gelände«, sagte Martine. »Aber vielleicht wollten sie nicht mit Schildern und Sperren Aufmerksamkeit erregen. Jedenfalls habe ich jetzt noch Herrn Singh in der anderen Leitung. Er wird uns durch etwaige Sicherheitsanlagen lotsen können.«
»Klar doch.« Singhs finsteres Runzelgesicht erschien auf dem Bildschirm. »Ich hab die Woche sowieso nichts weiter zu tun, als mit ungefähr hundert Stunden Arbeit dieses verdammte Otherlandsystem zu knacken.«
Sie fuhren um eine Kurve, als ihnen urplötzlich ein Tor in einem Maschendrahtzaun den Weg versperrte. Jeremiah trat mit einem Fluch auf die Bremse.
»Was habt ihr für ein Problem?« fragte Singh. »Halt mal einer das Pad hoch, damit ich was sehen kann.«
»Es… es ist bloß ein Zaun«, antwortete Renie. »Mit einem Schloß dran.«
»Oh, da werde ich euch eine große Hilfe sein«, lachte er keckernd. »Holt mich einfach hier raus.«
Renie stieg unmutig aus und zog gegen das leichte Geniesel den Kragen hoch. Es war kein Mensch zu sehen, und sie hörte nichts als den Wind in den Bäumen. Der Zaun hing an mehreren Stellen durch, und die Angeln des Tores waren mit Rost bestäubt, aber als Absperrung tat er es noch. Ein nahezu abgescheuertes Metallschild ließ noch schwache Spuren der Worte »Keep Out« erkennen. Zusätzliche Erläuterungen dieses Zutrittsverbots waren schon lange unleserlich.
»Sieht alt aus«, sagte sie, als sie wieder ins Auto stieg. »Scheint niemand da zu sein.«
»Mordsgeheimes Staatsgelände, hä? Sieht mir nich nach was aus.« Long Joseph stieß die Tür auf und machte Anstalten, sich vom Rücksitz zu quälen. »Ich muß mal pissen.«
»Vielleicht steht der Zaun unter Strom«, bemerkte Jeremiah hoffnungsvoll. »Pinkel doch dagegen, und sag uns dann Bescheid.«
Ein lauter Donnerschlag erscholl; das Gewitter war nähergekommen. »Steig wieder ein, Papa.«
»Wieso?«
»Steig einfach ein.« Sie wandte sich an Jeremiah. »Fahr durch.«
Dako starrte sie an, als hätte sie ihm befohlen, sich Flügel wachsen zu lassen. »Das meinst du doch nicht im Ernst.«
»Fahr durch, Mann. Das Ding ist seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. Wir können hier sitzenbleiben und zusehen, wie es dunkel wird, oder wir können die Sache durchziehen. Fahr.«
»O nein. Nicht mit meinem Wagen. Es wird Kratzer …«
Renie streckte ein Bein aus und trat so kräftig auf Dakos Fuß, daß das Gaspedal am Boden aufkam. Die Reifen wirbelten Erde auf, bevor sie griffen, dann machte der Ihlosi einen Satz nach vorn und rammte das Tor. Es gab ein wenig nach.
»Was machst du da?« schrie Jeremiah.
»Willst du warten, bis wir entdeckt werden?« brüllte Renie zurück. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Im Gefängnis kann’s dir egal sein, ob der Lack noch dran ist oder nicht.«
Er starrte sie an. Die Frontstoßstange drückte weiter gegen das Tor, das einen halben Meter zurückgewichen war, aber noch hielt. Dako fluchte und stampfte aufs Gaspedal. Einen Moment lang veränderte sich nichts außer dem Geräusch des Motors, das zu einem schrillen Jaulen anschwoll. Dann riß etwas mit deutlich hörbarem Krachen, ein Netz aus Sprüngen zuckte über die Windschutzscheibe, und das Tor flog auf. Jeremiah mußte hart auf die Bremse treten, damit der Wagen nicht gegen einen Baum prallte.
»Sieh dir das an!« kreischte er. Er sprang vom Fahrersitz
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