Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
hast.«
»Ich muß sie unbedingt holen.« Er lenkte in eine Abbiegespur.
»Jeremiah, nein!« Renie versuchte mit einer Autorität zu sprechen, die sie nicht fühlte. »Tu das nicht. Wenn die wirklich dermaßen hinter uns her sind, werden sie genau darauf warten. Du wirst ihr nicht helfen können, und wir sind dann alle geliefert.« Sie zwang sich nachzudenken. »Hör zu, Martine meint, sie hätte etwas gefunden, einen Ort, wo wir hinkönnen. Um dort hinzukommen, brauchen wir dich. Ich bin sicher, du kannst irgendeine Regelung für deine Mutter treffen.«
»Regelung?« Jeremiah stand immer noch der Schrecken ins Gesicht geschrieben.
»Ruf Verwandte an. Sag ihnen, du hättest wegen irgendeinem Notfall die Stadt verlassen müssen. Bitte sie, ein Auge auf deine Mutter zu haben. Wenn du nicht auftauchst, haben unsere Verfolger keinen Anlaß, sie zu belästigen.« Sie war sich nicht sicher, ob das stimmte, und sie kam sich bei diesen Worten wie eine Verräterin vor, aber etwas anderes fiel ihr nicht ein. Ohne Jeremiah und die Mobilität des Autos hatten sie und !Xabbu und ihr Vater keine Chance.
»Aber was ist, wenn ich meine Mutter sehen will? Sie ist eine alte Frau – sie wird einsam sein und sich ängstigen!«
»Was is mit Stephen?« sagte Long Joseph plötzlich vom Rücksitz. »Wenn die uns jagen und wir uns verstecken, können wir meinen Jungen nich besuchen gehen, wenn die Quarantäne vorbei is.«
»Herrgott nochmal, ich kann nicht an alles gleichzeitig denken!« schrie Renie. »Könnt ihr vielleicht alle mal still sein?«
!Xabbus schlanke Finger kamen über die Lehne und legten sich auf ihre Schulter. »Du denkst sehr gut«, sagte er. »Wir müssen weitermachen, was wir angefangen haben, wie du es gesagt hast.«
»Tut mir leid, wenn ich störe«, ließ sich Martine aus dem Pad unter Renies Füßen vernehmen, so daß diese einen tüchtigen Schreck bekam, »aber soll ich euch jetzt den Weg beschreiben oder nicht?«
Renie ließ das Fenster hinunter und holte tief Luft. Die Luft war warm und schwer, als ob es bald regnen wollte, aber im Moment roch sie nach Flucht.
Der Ihlosi sauste auf der N3 nach Nordwesten, eines von vielen anonymen Fahrzeugen im morgendlichen Stoßverkehr. Jeremiah war es gelungen, eine ältere Verwandte zu erreichen, die versprochen hatte, nach seiner Mutter zu sehen, und Renie hatte geschäftsmäßige Mitteilungen über eine mehrtägige Abwesenheit an Stephens Krankenhaus und die TH geschickt. Sie waren unbehelligt geblieben und schienen zumindest fürs erste ihren Verfolgern entkommen zu sein. Die Stimmung im Wagen besserte sich.
Martine hatte ihnen ein Ziel hoch oben in den Drakensbergen an der Grenze zu Lesotho genannt, in einem Gebiet, das sich wegen seiner Wildheit und der schlechten Straßenverhältnisse nicht für Erkundungen im Dunkeln empfahl. Als es Mittag wurde, kamen Renie Befürchtungen, daß sie das Gebiet nicht rechtzeitig erreichen würden. Sie war nicht erbaut, als Jeremiah beschloß, an einem Autobahnrestaurant eine Mittagspause einzulegen. Sie machte den anderen klar, was für ein auffälliger Haufen sie waren und daß besonders !Xabbu den Leuten in Erinnerung bleiben würde, und überzeugte so Jeremiah, vier Gerichte zum Mitnehmen zu besorgen. Als er damit zurückkam, beschwerte er sich zwar darüber, im Fahren essen zu müssen, aber sie hatten nur eine Viertelstunde verloren.
Je höher sie aus der Ebene ins Vorgebirge stiegen, um so dünner wurde der Verkehr. Die Straße wurde kleiner, und die Fahrzeuge wurden größer, denn statt der kleinen Flitzer der Pendler fuhren hier riesenhafte Lastwagen, silberglänzende Dinosaurier auf dem Weg nach Ladysmith oder am Anfang ihrer langen Route nach Johannesburg. Der leise Ihlosi fädelte sich zwischen den größeren Fahrzeugen ein und aus, deren Räder zum Teil doppelt so hoch waren wie das ganze Auto. Renie wurde den Eindruck nicht los, daß dies eine nur allzu treffende Analogie zu ihrer Gesamtsituation war, zu dem gewaltigen Größenunterschied zwischen ihnen und den Leuten, mit denen sie sich angelegt hatten.
Noch größer wäre die Ähnlichkeit allerdings, dachte sie niedergeschlagen, wenn diese Laster versuchen würden, uns zu überfahren.
Zum Glück ging die Analogie nicht so weit. Sie erreichten das häßliche Stadtrandgebiet von Estcourt und bogen nach Westen auf eine kleinere Schnellstraße, von der sie nach kurzer Zeit auf eine noch kleinere Straße abfuhren. Während sie auf Serpentinen in die Berge
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