Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
hinaufstiegen, sank die Sonne, die den Zenit schon eine Weile überschritten hatte, auf die dichte Decke schwarzer Gewitterwolken zu, die die fernen Gipfel verhüllte. Anzeichen von Zivilisation wurden spärlicher, und dafür kamen grasbewachsene Hügel, schwankende Pappeln und zunehmend auch dunkelgrüne Nadelbaumgruppen. Über weite Strecken führten diese kleineren Straßen durch menschenleere Wildnis, nur hin und wieder verhieß ein Schild, daß irgendwo hinter den Bäumen ein Gasthaus oder ein Camp versteckt sei. Sie hatten den Eindruck, nicht allein Durban zu verlassen, sondern überhaupt die Welt, die sie kannten.
Versunken in den Anblick der Landschaft hatten die vier eine ganze Zeitlang geschwiegen, als !Xabbu das Wort ergriff. »Seht ihr das?« Er deutete auf einen hohen, kantigen Teil der vor ihnen aufragenden Berge. »Das ist Giant’s Castle. Das Bild, die Höhlenmalerei in Doktor Van Bleecks Haus kam von dort.« Die Stimme des kleinen Mannes war seltsam gepreßt. »Viele Tausende meines Volkes wurden dorthin vertrieben, vom weißen Mann und vom schwarzen Mann in die Zange genommen. Das war vor nicht ganz zweihundert Jahren. Sie wurden gejagt und erschossen, sobald sie sich blicken ließen. Einige von ihren Feinden töteten sie mit Speeren, aber gegen Schußwaffen konnten sie nicht siegen. Sie wurden in Höhlen getrieben und ermordet – Männer, Frauen, Kinder. Aus diesem Grund gibt es in diesem Teil der Welt niemanden mehr aus meinem Volk.«
Keiner wußte etwas zu erwidern. !Xabbu verfiel wieder in Schweigen.
Die Sonne begann gerade hinter einer besonders scharfzackigen Bergspitze zu verschwinden und sah aus wie eine Orange auf einer Presse, als Martine sich wieder meldete.
»Das muß der Cathkin Peak sein, den ihr jetzt seht«, sagte sie. »Ihr seid dicht vor der Abzweigung. Sagt mir die Namen der Ortschaften in der Nähe.« Jeremiah nannte ihr die letzten paar, durch die sie gekommen waren, traurige kleine Sammelsurien aus Fertigbauten mit gebrauchten Neonreklamen. »Gut«, sagte Martine. »Nach etwa zehn, fünfzehn Kilometern kommt ihr in eine Stadt, die Pietercouttsburg heißt. Fahrt dort runter und dann an der ersten Kreuzung rechts.«
»Wie kannst du das von Frankreich aus so genau wissen?« fragte Jeremiah.
»Straßenkarten sagt man, glaube ich, dazu.« Sie klang amüsiert. »Als ich den Standort dieses ›Wespennestes‹ erst einmal entdeckt hatte, war es nicht schwer, eine passende Route zu finden. Wirklich, Herr Dako, du tust so, als ob ich eine Zauberin wäre.«
Wie sie vorausgesagt hatte, zeigte nach wenigen Minuten ein Schild an, daß als nächstes Pietercouttsburg kommen würde. Jeremiah nahm die Ausfahrt und bog an der Kreuzung ab. Kurz darauf kurvten sie eine sehr schmale Straße hinauf. Links von Renie ragte der Cathkin Peak auf, in dunkle Wolken gehüllt und scharf konturiert von der untergehenden Sonne. Sie erinnerte sich an den Zulunamen des Gebirges, Wall der Speere, aber im Augenblick sahen die Drakensberge eher wie Zähne aus, wie ein riesiger schartiger Unterkiefer. Sie mußte an Mister J’s denken und erschauerte.
Vielleicht hatte Long Joseph auch eine Assoziation von Mündern gehabt. »Wie kommen wir hier an was zu essen?« fragte er plötzlich. »Hier sind wir doch am Arsch der Welt.«
»Wir haben uns am Mittag in dem Laden reichlich mit Lebensmitteln eingedeckt«, erinnerte ihn Renie.
»Das reicht vielleicht mal für zwei Tage. Aber wir sind auf der Flucht, Mädel, haste gesagt. Auf der Flucht für zwei Tage? Und dann?«
Renie verkniff sich eine schnippische Bemerkung. Ihr Vater hatte ausnahmsweise einmal recht. Sie konnten natürlich in kleinen Städten wie Pietercouttsburg einkaufen, aber dort war die Gefahr groß, daß Fremde Aufmerksamkeit erregten, zumal wenn sie immer wieder kamen. Und womit sollten sie bezahlen? Wenn Jeremiahs Konto gesperrt war, hatten sie und ihr Vater nichts anderes zu erwarten. Das bißchen Bargeld, das sie bei sich hatten, würde in wenigen Tagen ausgegeben sein.
»Du wirst nicht verhungern«, sagte !Xabbu . Er wandte sich an ihren Vater, aber sie spürte, daß sie und Jeremiah mitgemeint waren. »Ich habe mich bis jetzt wenig nützlich machen können, und ich bin unglücklich darüber, aber wenn es darum geht, Nahrung zu finden, sind die Menschen meines Volkes nicht zu übertreffen.«
Long Joseph zog entsetzt die Augenbrauen hoch. »Ich weiß noch, wie du von den Sachen erzählt hast, die ihr eßt. Bild dir bloß nich ein, du
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