Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
im Auto.«
»Aber !Xabbu …«
»Bitte, Renie.« Er schlüpfte aus seinen Schuhen, stellte sie neben den Eingang an einen trockenen Platz und krempelte sich die Hosenbeine hoch. »Bis jetzt habe ich wenig helfen können. Dies ist das einzige, was ich besser kann als alle anderen hier. Außerdem bin ich der Kleinste und komme am besten an engen Stellen durch.«
»Natürlich. Du hast recht.« Sie seufzte. Wie es schien, hatten alle bessere Ideen als sie. »Paß bloß sehr, sehr gut auf, !Xabbu . Und gib acht, daß wir dich nicht aus den Augen verlieren. Das meine ich ernst.«
Er lächelte. »Aber sicher.«
Während sie zusah, wie !Xabbu durch die gähnende Leere des Eingangs schritt, kroch Renie ein Schauder das Rückgrat hinauf. Er sah aus wie ein altertümlicher Krieger, der sich in die Höhle des Drachen wagte. Wohin gingen sie? Was taten sie? Vor nur wenigen Monaten wären ihr diese Flucht und dieser Einbruch als unbegreiflicher Wahnsinn erschienen.
Jeremiah ließ den Wagen an und fuhr vorsichtig hinter ihm her durch die Einfahrt. Die Scheinwerfer fielen auf nichts als trübe Leere; wenn !Xabbu nicht mit erhobener Fackel ein paar Meter vor ihnen gewesen wäre, hätte Renie Angst gehabt, sie könnten gleich über den Rand einer abgrundtiefen Grube rollen.
!Xabbu gab ihnen mit der Hand ein Signal anzuhalten. Er ging ein Stückchen voraus, schaute fackelschwenkend nach links und rechts, nach vorne und hinten, dann drehte er sich um und kam zurückgetrabt. Renie lehnte sich aus dem Fenster.
»Was ist?«
Der kleine Mann lächelte. »Ich denke, ihr könnt bedenkenlos vorwärtsfahren. Sieh mal.« Er hielt seine Fackel dicht an den Boden. Renie streckte sich, um hinunterschauen zu können. Im flackernden Licht erkannte sie einen breiten weißen Pfeil und das auf dem Kopf stehende Wort »STOP«. »Es ist ein Parkhaus«, sagte !Xabbu . Er hob die Fackel hoch. »Siehst du? Weiter oben sind noch mehr Etagen.«
Renie ließ sich in ihren Sitz zurückfallen. Jenseits der Scheinwerfer führten Auffahrten in eine tiefere Dunkelheit hinauf. Das Parkhaus war riesig und vollkommen leer.
»Ich nehme an, wir brauchen uns über Platz keine Gedanken zu machen«, sagte sie.
> Nachdem sie genug Brennholz herbeigeschleppt hatten, verband Renie Sagar Singh über ihr Pad mit der Schalttafel im Innern, damit er, sehr gegen Jeremiahs und Long Josephs Wunsch, das große Tor zumachen konnte. Wenn jemand sie zufällig entdecken sollte, wollte sie so gut geschützt sein, wie es die bombensicheren staatlichen Abwehranlagen erlaubten.
»Ich werde jetzt die Beschreibung, wie ihr es wieder aufmachen könnt, auf den Speicher deines Pads runterladen«, sagte Singh. »Denn sobald das Tor zugeht, bricht der Kontakt zu mir ab. Wenn es ein Militärbunker ist, kriegt ein normales Autotelefon nicht mal einen Pieps da rausgesendet.«
»Es gibt einen verschlossenen Fahrstuhl mit einem anderen Schaltkasten dran«, erzählte sie dem alten Häcker. »Ich denke, er führt zum Rest der Anlage hinunter. Kannst du den auch öffnen?«
»Nicht heute abend. Herrje, darf ich mich vielleicht auch mal ausruhen? Es ist nicht so, als hätte ich nichts anderes zu tun, als für euch den elektronischen Butler zu spielen.«
Sie bedankte sich bei ihm, sagte auch Martine gute Nacht und versprach, das Tor in zwölf Stunden wieder zu öffnen und sich zu melden. Singh ließ die große Platte hinunter. Während die Öffnung sich knirschend schloß, löste sich sein Raubvogelgesicht auf dem Bildschirm in ein elektronisches Schneegestöber auf. Renie und ihre Freunde waren abgeschnitten.
!Xabbu hatte ein großes Feuer entfacht, und er und Jeremiah waren dabei, aus den Vorräten, die sie am Morgen eingekauft hatten, einen Eintopf aus billigem Containerrindfleisch und Gemüse zu kochen. Long Joseph sah sich mit der Fackel in der Hand in den entlegeneren Teilen der riesigen Garage im Berg um, was Renie nervös machte.
»Paß auf losen Beton oder nicht gekennzeichnete Treppen und solche Sachen auf«, rief sie hinter ihm her. Er drehte sich um und warf ihr einen Blick zu, den sie im Feuerschein nicht genau erkennen konnte, aber der vermutlich Entrüstung ausdrückte. Die im Schatten liegende Decke war so hoch und die Fläche so weit, daß er weit entfernt in einer flachen Wüste zu stehen schien. Einen Moment lang schlug ihre Wahrnehmung um, und statt innen standen sie außen, so vollständig außen, daß es nirgends mehr Wände gab. Das Gefühl war schwindelerregend;
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