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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Luchsschwester verdutzt, weil sie dachte, ihre Schwester sei aus dem Schilf und dem Wasser heimgekehrt, doch dann roch sie den Hyänengestank und fürchtete sich. Sie preßte den Jungen fest an sich und lief vom Feuer fort, während die Hyänentochter hinter ihr herheulte: ›Bring mein Kind zurück! Ich bin die Frau von Herz der Morgenröte!‹
    Die Luchsschwester wußte jetzt, was geschehen war, und sie wußte auch, daß der Zeitpunkt, an dem ihr Schwager normalerweise von seiner langen Fahrt über den Himmel zurückkehren würde, für die Rettung ihrer Schwester zu spät wäre. Sie begab sich auf eine Anhöhe, hob das Gesicht zum dunklen Himmel empor und fing an zu singen:
     
›Herz der Morgenröte, höre mich, höre mich!
    Herz der Morgenröte, komm von deiner Jagd zurück!
    Deine Frau ist krank, dein Kind ist hungrig!
    Herz der Morgenröte, es ist eine schlimme Zeit!‹
     
    Sie sang das wieder und wieder, lauter und lauter, bis der große Jäger sie schließlich hörte. Er kam mit blitzenden Augen über den Himmel zurückgestürzt, bis er vor der Luchsschwester stand. Sie berichtete ihm alles, was vorgefallen war, und er wurde furchtbar wütend. Er lief in sein Lager. Als er dort anlangte, stand die Hyänentochter auf, und ihre gestohlenen Ohrringe und Bänder klingelten. Sie bemühte sich, ihrer tiefen, grollenden Stimme den süßen Ton der Luchsin zu geben, und sprach zu ihm: ›Lieber Mann, du bist wieder da! Und was hast du deiner Frau mitgebracht? Hast du Wild mitgebracht? Hast du Geschenke mitgebracht?‹
    ›Nur ein Geschenk habe ich dir mitgebracht – hier ist es!‹ sprach Herz der Morgenröte und schleuderte seinen Speer. Die Hyäne kreischte auf und sprang zur Seite, und der Speer verfehlte sie. Das war das einzige Mal, daß Herz der Morgenröte je danebenwarf, denn der Hyänenzauber ist alt und sehr stark. Aber beim Ausweichen trat sie ins Feuer, und die Glut verbrannte ihr die Beine, so daß sie noch lauter kreischte. Sie warf die gestohlenen Sachen der Luchsin ab und rannte davon, so schnell sie konnte, und weil die Verbrennungen so schmerzten, humpelte sie. Und wenn ihr heute einer Hyäne begegnet, seht ihr, daß sie einen Gang hat, als ob ihre Füße ganz empfindlich wären, wie ihn alle Nachkommen der Hyänentochter haben, und daß ihre Beine immer noch schwarz sind, weil sie damals ins Feuer von Herz der Morgenröte trat.
    Als nun der Jäger die falsche Frau vertrieben hatte, ging er zu dem Wasser und holte seine Frau von dort fort und gab ihr ihren Schmuck und ihre Kleider wieder und legte ihr erneut ihren kleinen Sohn in die Arme. Dann kehrten sie zusammen mit der Luchsschwester in ihr Lager zurück. Und wenn heute der Morgenstern, den wir Herz der Morgenröte nennen, von der Jagd zurückkehrt, kommt er immer rasch, und selbst die dunkle Nacht läuft vor ihm davon. Wenn er erscheint, könnt ihr sehen, wie die Nacht am Horizont flieht, daß der rote Staub von ihren Fersen aufstiebt. Und damit ist meine Geschichte zu Ende.«
    Alle schwiegen, als der kleine Mann fertig erzählt hatte. Jeremiah nickte bedächtig mit dem Kopf, als ob er etwas bestätigt bekommen hätte, was er schon lange geglaubt hatte. Long Joseph nickte ebenfalls, aber aus einem anderen Grund: Er war eingeschlafen.
    »Das war … sehr schön«, sagte Renie schließlich. !Xabbus Märchen war skurril und phantastisch gewesen und doch auch irgendwie vertraut, als ob sie Teile davon schon einmal gehört hätte, obwohl sie wußte, daß das nicht stimmte. »Es … es hat mich an so vieles erinnert.«
    »Es freut mich, daß du es gehört hast. Ich hoffe, du wirst dich daran erinnern, wenn du unglücklich bist. Wir müssen alle darum beten, daß die Güte anderer uns Kraft gibt.«
    Eine Weile schien das Leuchten des Feuers den Raum auszufüllen und die Schatten zurückzudrängen. Renie leistete sich den Luxus einer leisen Hoffnung.
     
    Sie blickte von oben über eine weite, nachtfinstere Wüste. Ob sie in den Zweigen eines Baumes oder am Hang auf einer Treppe saß, konnte sie nicht sagen. Ringsherum hockten überall Leute, obwohl sie sie kaum erkennen konnte.
    »Es freut mich, daß du hierbleiben willst«, sagte Susan Van Bleeck neben ihr aus der Dunkelheit. »Sicher, das Haus ist zu hoch in der Luft – manchmal habe ich Angst, daß alle runterfallen.«
    »Aber ich kann nicht bleiben.« Renie wollte Susan nicht verletzen, aber sie wußte, daß es gesagt werden mußte. »Ich muß losgehen und Stephen seine Schulsachen bringen.

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