Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
mit ähnlich leergeräumten Großraumbüros verbesserten ihre Laune nicht. Zwar sprachen die verbliebenen großen Möbelstücke dafür, daß die Räumung irgendwann abgebrochen worden war, aber die leeren Zellen enthielten nichts von wirklichem Wert. Es gab ein paar leicht gruselige Relikte, die daran erinnerten, daß hier einmal Menschen gelebt hatten – ein paar fast zwei Jahrzehnte alte Kalender, die noch an den Wänden hingen, uralte Mitteilungen über diese oder jene Änderung der Aufgabenverteilung oder der Vorschriften, die an schwarzen Brettern vergilbten, an einem Bürofenster sogar ein Foto von einer Frau mit Kindern, alle in Stammeskostüme gekleidet wie für eine Zeremonie –, aber sie ließen alles nur noch verlassener, noch toter erscheinen.
Das Stockwerk darunter war voller Stahltresen, bei denen Renie unangenehme Assoziationen an das Behandlungszimmer eines Pathologen hatte, bis ihr klarwurde, daß dies die Küche gewesen war. Ein großer leerer Raum mit hoch aufgestapelten Klapptischen bestätigte die Vermutung. Die nächsten beiden Stockwerke enthielten Kabinen, in denen sie Schlafkammern vermutete und die jetzt leer waren wie die Waben eines ausgestorbenen Bienenstocks.
»Hier haben Leute gelebt?« fragte Jeremiah.
»Ein paar wahrscheinlich.« Renie griff nach ihrem Pad und schickte den Fahrstuhl weiter nach unten. »Vielleicht haben sie die Anlage auch bloß für den Ernstfall bereitgehalten, aber sie nie benutzt. Martine meinte, es wäre eine spezielle Luftwaffeninstallation gewesen.«
»Das is der letzte Stock«, bemerkte ihr Vater überflüssigerweise, da die Knöpfe an der Fahrstuhlwand leicht zu zählen waren. »Und da, wo wir reingekommen sind, is auch nix weiter drüber als noch zwei Parketagen, wie gesagt. Ich hab geguckt.« Er hörte sich beinahe fröhlich an.
Renie suchte den Augenkontakt mit !Xabbu . Der Ausdruck des kleinen Mannes veränderte sich nicht, aber er hielt ihren Blick, wie um ihr Kraft zu schicken. Er glaubt auch nicht, daß hier irgend etwas ist. Ein Gefühl der Unwirklichkeit überschwemmte sie. Oder vielleicht auch der Wirklichkeit – was hatten sie denn erwartet? Einen kompletten, funktionierenden Hightech-Militärstützpunkt, der nur auf sie wartete wie ein verwunschenes Märchenschloß?
Die Fahrstuhltür ging wieder auf. Renie brauchte nicht einmal hinzuschauen, und ihr Vater hatte nichts Überraschendes mitzuteilen.
»Noch mehr Büros. Sieht aus wie’n großer Tagungsraum da drüben.«
Sie atmete einmal durch. »Machen wir trotzdem einen Rundgang. Schaden kann’s nicht.«
Obwohl ihr zusehends zumute war wie in einem besonders quälenden und bedrückenden Traum, trat sie als erste in den unterteilten Großraum. Während die anderen in verschiedene Richtungen ausschwärmten, blieb sie stehen und sah sich um. Der erste Raum war bis auf den häßlichen anstaltsbeigen Teppich ratzekahl ausgeräumt gewesen. In ihrem niedergeschlagenen Zustand konnte sie nicht anders, als sich auszumalen, wie höllisch es gewesen sein mußte, in diesem fensterlosen Verlies zu arbeiten, künstliche Luft zu atmen, zu wissen, daß man unter einer Million Tonnen Stein begraben war. Voll Bitterkeit wandte sie sich wieder dem Fahrstuhl zu. Sie fühlte sich schlicht zu elend, um darüber nachzudenken, was sie als nächstes tun konnten.
»Hier ist noch ein Fahrstuhl«, rief !Xabbu .
Es dauerte einen Moment, bis sie begriffen hatte. »Was?«
»Noch ein Fahrstuhl. Hier hinten in der Ecke.«
Renie und die anderen eilten durch das Wändelabyrinth, bis sie vor dem ganz normal aussehenden Aufzug standen und gafften, als ob er ein gelandetes UFO wäre.
»Ist das noch einer, der vom Eingang runterkommt?« fragte Renie, die sich nicht traute, eine neue Hoffnung aufkeimen zu lassen.
»An dieser Wand waren keine, Mädel«, sagte Long Joseph.
»Er hat recht.« Jeremiah streckte die Hand aus und berührte vorsichtig die Tür.
Renie lief zurück, um ihr Pad aus dem anderen Fahrstuhl auszustecken.
Es gab keine Knöpfe in dem stumpfgrauen Kasten, und zunächst wollten die Türen nicht wieder zugehen. Sie schloß das Pad an das Handlesegerät im Innern an und gab Singhs Zeichenfolge ein; gleich darauf gingen die Türen zu. Der Aufzug fuhr überraschend lange nach unten, dann machte es kling, und die Türen öffneten sich.
»O mein Gott«, sagte Jeremiah. »Seht euch das an.«
Renie blinzelte. Es war tatsächlich das Pharaonengrab.
Long Joseph lachte laut auf. »Ich hab’s! Erst hamse
Weitere Kostenlose Bücher