Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
der komplexen Empfindungswelt eines Erwachsenen, einerlei wie primitiv seine Herkunft durch die Brille ihrer Städtervorurteile erschien –, so daß es sowohl erfrischend als auch ein wenig beängstigend war, ihn auf seiner Jungfernfahrt zu begleiten. Nein, mehr als nur ein wenig beängstigend: Durch seine Augen betrachtet wirkte die Lambda Mall so aufgedunsen und laut, so vulgär…
!Xabbu blieb vor den virtuellen Auslagen eines Ladens stehen und machte eine Handbewegung, um die ganze Reklame zu sehen. Renie machte sich gar nicht erst die Mühe. Obwohl sein Sim regungslos vor der glitzernden Fassade des Ladens stand, wußte sie, daß er gerade mitten in einem Familienmelodrama drinsteckte, in dem dem barschen, aber gutmütigen Vater langsam klargemacht wurde, was für Freuden ihm entgingen, wenn er nicht die Heimunterhaltungseinheit mit Mehrfachzugang von Krittapong kaufte. Sie beobachtete, wie der kleine Sim des Buschmanns mit unsichtbaren Personen redete und umging, und abermals beschlich sie ein leises Gefühl der Verantwortung und der Scham. Nach einigen Minuten schüttelte sich !Xabbu am ganzen Leib wie ein nasser Hund und trat zurück.
»Hat der knauserige-aber-eigentlich-herzensgute Papa seine falsche Einstellung eingesehen?« fragte sie.
»Wer waren diese Leute?«
»Keine Leute. Im Netz nennt man richtige Menschen ›Bürger‹. Das da waren Replikanten – Konstrukte, die wie Menschen aussehen. Erfundene Sachen, genau wie die Läden hier und sogar wie die Mall selbst.«
»Keine richtigen Menschen? Aber sie haben mit mir geredet – Fragen beantwortet.«
»Nichts weiter als eine etwas aufwendigere Form der Werbung. Und sie sind nicht so klug, wie sie tun. Geh zurück und frag Mama nach dem Aufstand von Soweto oder nach Ngosanes zweiter Amtsperiode. Sie wird dir einfach die Freuden der direkten Bildprojektion auf die Netzhaut von vorne herunterbeten.«
!Xabbu dachte darüber nach. »Dann sind sie so etwas … wie Geister. Dinge ohne Seele.«
Renie schüttelte den Kopf. »Ohne Seele, das stimmt. Aber ›Geister‹ bedeutet im Netz etwas anderes. Ich werde dir ein andermal was darüber erzählen.«
Sie glitten weiter die Straße im Schrittempo hinunter, so daß sie bequem die Auslagen betrachten konnten.
»Wie merkt man den Unterschied?« fragte !Xabbu . »Zwischen Bürgern und Replikanten?«
»Man merkt ihn nicht immer. Wenn du es wissen willst, mußt du fragen. Nach dem Gesetz müssen wir alle darauf antworten – auch Konstrukte. Und wir müssen alle die Wahrheit sagen, obwohl ich mir sicher bin, daß das Gesetz oft genug gebrochen wird.«
»Ich finde diesen Gedanken … bestürzend.«
»Man muß sich erst dran gewöhnen. Nun gut, wenn wir schon Einkaufen spielen, können wir da mal reingehen – oder fandest du die Reklame zu abstoßend?«
»Nein. Es war interessant. Ich finde, der Papa sollte sich mehr Bewegung verschaffen. Er hatte ein ungesundes Gesicht.«
Renie lachte, als sie in den Laden eintraten.
!Xabbu sperrte den Mund auf. »Aber von außen sah das alles ganz winzig aus! Ist das schon wieder visuelle Zauberei?«
»Du darfst nicht vergessen, daß nichts von alledem im normalen Sinne wirklich ist. Frontflächen in der Mall sind teuer, deshalb sind die Auslagendisplays meistens klein, aber der Geschäftsknoten selbst ist nicht dahinter, wie es bei einem wirklichen Geschäft der Fall wäre. Wir haben uns einfach an einen anderen Ort im Informationsnetzwerk begeben, der unmittelbar neben dem Hausmeisterdienst der Technischen Hochschule liegen könnte, oder neben einem Abenteuerspiel für Kinder oder den Bankbelegen einer Versicherungsgesellschaft.« Sie schauten sich in dem großen und teuer aussehenden Laden um. Leise Musik spielte, die Renie sofort abschaltete – einige der unterschwelligen Effekte waren sehr raffiniert, und wenn sie wieder offline war, wollte sie nicht entdecken, daß sie sich irgendeinen teuren Firlefanz angeschafft hatte. Wand- und Bodenflächen des simulierten Ladens zierten geschmackvolle abstrakte Skulpturen; die Produkte selbst, auf niedrigen Säulen ausgestellt, schienen ein weiches inneres Licht abzugeben und wirkten wie heilige Reliquien.
»Fällt dir auf, daß es hier keine Fenster gibt?«
!Xabbu schaute zurück. »Aber es waren mehrere zu beiden Seiten der Tür, durch die wir gekommen sind.«
»Nur außen. Was die uns zeigten, war so etwas wie eine Seite in einem gedruckten Katalog – kein Kunststück. Viel schwieriger und teurer und nicht zuletzt
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