Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
balancierten Tabletts mit unglaublich hohen Gläserstapeln, obwohl nur sehr wenige Kunden Gläser vor sich stehen hatten. »Es ist nett hier, Frau Sulaweyo.«
»Renie, bitte.«
»Gern. Es ist nett hier, Renie. Aber warum sind so viele Tische leer? Wenn es so billig ist, wie du gesagt hast…«
»Nicht jeder hier möchte gesehen werden, obwohl man nicht einfach unsichtbar sein kann, ohne daß es einen Hinweis gäbe.« Sie deutete auf die perfekte, aber menschenleere Simulation eines schwarzen gußeisernen Tischchens mit weißer Tischdecke, auf dem eine Vase mit wunderschönen Margeriten stand. »Siehst du die Blumen da? Auf wie vielen anderen leeren Tischen stehen welche?«
»Auf den meisten.«
»Das heißt, daß dort jemand sitzt – oder den virtuellen Raum beansprucht, genauer gesagt. Es ist ihnen einfach lieber, nicht gesehen zu werden. Vielleicht sind es heimliche Liebespaare, oder ihre Sims sind berühmt und leicht zu erkennen. Oder vielleicht haben sie einfach vergessen, die Vorgabe der letzten Leute, die dort saßen, zu ändern.«
!Xabbu betrachtete nachdenklich den leeren Tisch. »Sind wir sichtbar?« fragte er schließlich.
»O ja. Ich habe nichts zu verbergen. Ich habe allerdings unser Gespräch nach außen stummgeschaltet. Ansonsten wären wir beim Weggehen von Straßenhändlern umlagert, die darauf warten, einem Lagepläne zu verkaufen, Betriebsanleitungen, sogenannte ›Optimierungspakete‹ – allen möglichen Plunder. Sie sind ganz wild auf Neulinge.«
»Und das ist alles, was die meisten Leute hier machen? Herumsitzen?«
»Für diejenigen, die keine Lust haben, dem Treiben zuzuschauen, laufen verschiedene virtuelle Veranstaltungen: Tanzen, Objektgestaltung, Komödien. Ich habe einfach keinen Zugriff darauf bestellt. Möchtest du eine sehen?«
»Nein, danke, Renie. Die Ruhe ist sehr angenehm.«
Die Ruhe dauerte nur noch wenige Sekunden. Eine laute Detonation ließ Renie erschrocken aufschreien. Auf der Straße vor dem Café stob die Menge wild auseinander wie eine Antilopenherde, die vor dem Angriff eines Löwen floh.
Sechs Sims, alles muskelbepackte Männer in martialischer Leder- und Stahlmontur, standen auf der freien Fläche, schrien sich gegenseitig an und schwenkten große Gewehre. Renie stellte den Ton lauter, damit sie und !Xabbu alles verstehen konnten.
»Wir haben euch gesagt, ihr sollt euch in der Englebart Street nicht mehr blicken lassen!« brüllte einer von ihnen mit scharfem amerikanischen Tonfall und brachte sein Maschinengewehr in Anschlag, so daß es von seiner Hüfte vorsprang wie ein schwarzer Metallphallus.
»Eher lernen Schweine fliegen, als daß uns ein Blaffmaul was zu sagen hat!« schrie ein anderer zurück. »Verpiß dich in deine Höllenbox, Kleiner!«
Ein explodierender Feuerstern schlug aus der Gewehrmündung des ersten Mannes. Das Pat-Pat-Pat war noch durch die gedämpfte Tonwiedergabe in Renies Ohrenstöpseln laut. Der Mann, der sich nicht mehr in der Englebart Street hatte blicken lassen sollen, wurde in Form von hellrotem Blut, Eingeweiden und Fleischfetzen über eben jene Straße verspritzt. Die Menge stieß einen kollektiven Angstschrei aus und versuchte, noch weiter zurückzuweichen. Abermals zuckte es aus den Gewehren, und noch zwei der muskelbepackten Männer wurden mit schwarz verbrannten und rot triefenden Löchern zu Boden geschmettert. Die Sieger hoben ihre Waffen hoch, glotzten sich einen Augenblick an und verschwanden.
»Idioten.« Renie wandte sich !Xabbu zu, aber der war gleichfalls verschwunden. Ihre kurze Unruhe legte sich, als sie den Rand seines grauen Sims hinter dem Stuhl hervorlugen sah. »Komm wieder hoch, !Xabbu . Es war bloß ein Dummejungenstreich.«
»Aber er hat den Mann dort erschossen!« !Xabbu krabbelte auf seinen Stuhl zurück und beäugte mißtrauisch die Menge, die wie eine anrollende Welle wieder über die Stelle geschwappt war.
»Alles simuliert, schon vergessen? In Wirklichkeit ist niemand erschossen worden – trotzdem ist sowas in öffentlichen Bereichen nicht erlaubt. Wahrscheinlich eine Bande Schuljungen.« Einen quälenden Moment lang dachte sie an Stephen, aber solche Mätzchen waren nicht seine Art. Sie bezweifelte auch, daß er und seine Freunde an derart erstklassige Sims herankommen konnten. Kleine reiche Stinker, die Sorte war das gewesen. »Und es kann ihnen passieren, daß sie ihre Zugangsrechte verlieren, wenn sie erwischt werden.«
»Dann war das alles nicht echt?«
»Alles nicht echt. Bloß eine
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