Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
an. »Das ist eine gute Idee, !Xabbu . Jeremiah, gibt es Verwandte von dir, die wir über eine öffentliche Telefonzelle erreichen könnten?« Sie wußte, daß in Pinetown unter denen, die sich keinen regulären Datenanschluß leisten konnten, viele Leute die Gemeinschaftszellen benutzten und einen Nachbarn, der einen Anruf bekam, an die Leitung holen würden. »Ich bezweifle, daß sie jede einzelne Zelle in der Nähe jedes deiner Verwandten anzapfen. Wir sind noch nicht zu Staatsfeinden erklärt worden, deshalb muß das alles einigermaßen still über die Bühne gehen.«
Während ein besänftigter Jeremiah überlegte, lächelte Renie !Xabbu zu, um ihm zu signalisieren, wie dankbar sie für seine Hilfe war. Der kleine Mann wirkte immer noch nachdenklich.
> »Wir haben zwei Tanks, die komplett sind«, sagte !Xabbu .
Renie, die gerade eines der fraglichen Objekte inspizierte, drehte sich um. Sie hatte eine Handvoll mit Gummi ummantelter Glasfaserkabel geprüft, die unter dem Tankdeckel hervorhingen wie die Tentakel eines Tintenfischs aus einer Felsspalte. »Ich weiß. Damit haben wir einen Ersatz, wenn mit dem ersten etwas schiefgeht.«
!Xabbu schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht, was ich meine, Renie. Wir haben zwei. Du denkst, daß du allein gehen wirst, aber das ist nicht richtig. Ich habe dich sonst auch begleitet. Wir sind Freunde.«
»Du willst mit mir in dieses Otherlandsystem einbrechen? Um Himmels willen, !Xabbu , habe ich dich nicht schon genug in Schwierigkeiten gebracht? Auf jeden Fall werde ich nicht allein gehen – Singh kommt mit und vielleicht auch Martine.«
»Es hat mehr zu bedeuten. Du setzt dich einer größeren Gefahr aus. Erinnerst du dich nicht mehr an die Kali? Wir haben einander beigestanden und sollten es wieder tun.«
Renie sah an seiner entschlossenen Miene, daß dies kein rasches Ende nehmen würde. Sie ließ die schlängeligen Kabel los. »Aber …« Plötzlich fiel ihr kein Argument mehr ein. Zudem erkannte sie, wie viel besser sie sich in !Xabbus Begleitung fühlen würde. Sie sah sich immer noch genötigt, einen symbolischen Protest anzumelden. »Aber wer wird hier draußen die Sache in die Hand nehmen, wenn wir beide online sind? Ich hab dir ja gesagt, das kann Tage dauern … vielleicht Wochen.«
»Jeremiah ist intelligent und umsichtig. Auch dein Vater ist brauchbar, wenn er die Wichtigkeit einsieht. Und wie du selbst gesagt hast, gibt es nicht viel zu tun, außer uns zu überwachen.«
»Sind wir schon bei ›uns‹ angelangt?« Sie mußte grinsen. »Ich weiß nicht. Ich nehme an, du hast genauso ein Recht darauf wie ich.«
»Auch mein Leben ist in diese Sache verwickelt.« Der kleine Mann blieb ernst. »Ich bin freiwillig mit dir hierhergefahren. Ich kann an diesem Punkt keinen Rückzieher machen.«
Ihr war auf einmal zumute, als müßte sie weinen. Er war so streng, so feierlich, und dabei war er nicht größer als ein Junge. Er hatte sich ihre Verantwortung aufgeladen, als ob sie seine eigene wäre, und das anscheinend völlig bedenkenlos. Eine solche Loyalität war nicht nur eigenartig, sondern direkt ein wenig beängstigend.
Wie kommt es, daß mir dieser Mann so schnell so lieb geworden ist? Der Gedanke stieg mit überraschender Heftigkeit in ihr auf. Er ist wie ein Bruder – ein Bruder in meinem Alter, kein Kind wie Stephen, um das man sich kümmern muß.
Oder war doch mehr daran? Ihre Gefühle gingen durcheinander.
»Na schön, von mir aus.« Sie drehte sich wieder den Glasfaserkabeln zu, aus Angst, er könnte ihr die Wärme in den Wangen ansehen und sie als ein Zeichen auffassen, das sie nicht geben wollte. »Es ist deine Entscheidung. Wenn Jeremiah und mein Vater ja sagen, gehen du und ich zusammen.«
»Und ich sag weiter, du spinnst, Mädel«, erklärte ihr Vater.
»Es ist nicht so gefährlich, wie du denkst, Papa.« Sie hob die dünne, flexible Maske hoch. »Die hier kommt vors Gesicht. Sie unterscheidet sich nicht sehr von einer Tauchermaske. Siehst du, hier an dieser Stelle legt sie sich fest über deine Augen – damit die Projektion auf die Netzhaut fokussiert bleibt. ›Projektion auf die Netzhaut‹ heißt einfach, daß ein Bild auf die Rückseite des Auges geworfen wird. Das ist nicht viel anders als beim normalen Sehen, und dadurch erscheint die visuelle Eingabe sehr real. Und atmen tut man so.« Sie deutete auf drei Ventile, zwei kleine und ein großes, die ein Dreieck bildeten. »Dies hier legt sich ganz dicht über Nase und
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