Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
eine kleine, schlanke Gestalt, die ihrem Freund außerordentlich ähnlich sah. Sogar das Gesicht war sein eigenes, trotz einer gewissen glatten Steifheit. !Xabbus Sim hatte wohl, vermutete sie, die traditionelle Tracht seines Volkes an, einen ledernen Lendenschurz, Sandalen und eine Kette mit Eierschalenperlen um den Hals. Über einer Schulter hingen ein Köcher und ein Bogen, und er hielt einen Speer in der Hand.
»Du hast das gemacht? Das alles?«
Er lächelte. »Es ist nicht so viel, wie es aussieht, Renie. Zum Teil ist es von anderen Modulen über die Kalahari genommen. Es gibt reichlich frei verfügbares Gear. Ich fand akademische Simulationen – ökologische Modelle, evolutionsbiologische Projekte – in den Datenbanken der Universität von Natal. Das ist meine Examensarbeit.« Sein Lächeln wurde breiter. »Du hast dich selbst noch nicht angeschaut.«
Sie sah an sich hinab. Ihre Beine waren nackt, und auch sie hatte einen Lendenschurz an. Sie trug mehr Schmuck als !Xabbu und einen Lederumhang, der ihren Oberkörper bedeckte, an der Taille mit grobem Zwirn zugebunden. Da dies eigentlich ein Test der V-Tanks sein sollte, befühlte sie ihn. Das gegerbte Fell fühlte sich glatt und ein wenig haftend an, nicht viel anders als das Ding, das es darstellte.
»Dies wird ›Karoß‹ genannt.« !Xabbu deutete auf die Stelle am Rücken, wo der Umhang offen war. »Die Frauen meines Volkes benutzen ihn nicht bloß als Kleidungsstück. Säuglinge werden darin getragen, ebenso Nahrung, die im Laufe des Tages gesammelt wurde.«
»Und was ist das?« Sie hob ein Stück Holz hoch, das sie in der anderen Hand hielt.
»Ein Grabstock.«
Sie lachte. »Das ist erstaunlich, !Xabbu . Wo kommt das her? Ich meine, wie ist es in dieses System gelangt? Du kannst das nicht alles gemacht haben, seit wir hier sind.«
Er schüttelte mit feierlichem Simgesicht den Kopf. »Ich habe es aus meinem Speicher in der TH kopiert.«
Renie erstarrte vor Schreck. » !Xabbu !«
»Martine hat mir geholfen. Um sicherzugehen, haben wir es durch … wie hat sie es genannt? … einen ›Offshore-Router‹ geleitet. Außerdem habe ich eine Nachricht für dich hinterlassen.«
»Wovon redest du?«
»Während ich im System der TH war, habe ich auf dein Konto dort eine Nachricht gesprochen. Ich sagte, ich hätte versucht, dich zu erreichen, und hoffte, bald mit dir über meine Studien und meine Examensarbeit reden zu können.«
Renie schüttelte den Kopf. Sie hörte etwas klingeln und fühlte, als sie hochfaßte, baumelnde Ohrringe. »Ich verstehe nicht.«
»Ich dachte, falls jemand deine Kontakte überprüft, wäre es gut, wenn er denkt, ich wüßte nicht, wo du bist. Vielleicht würde er dann meine Vermieterin in Ruhe lassen. Sie war nicht sehr freundlich, aber so ein Elend, wie wir es erlebt haben, hat sie nicht verdient. Aber, Renie, ich bin unglücklich.«
Sie hatte Mühe, mitzukommen. »Warum, !Xabbu ?«
»Weil mir, als ich die Nachricht hinterließ, klarwurde, daß ich vorsätzlich log. Das habe ich noch nie getan. Ich fürchte, ich verändere mich. Es ist kein Wunder, daß ich das Lied der Sonne verloren habe.«
Selbst hinter der Maske seines Simuloiden konnte Renie den Kummer des kleinen Mannes erkennen.
Genau davor hatte ich Angst. Sie wußte nicht, wie sie ihn trösten sollte. Bei jedem anderen Freund hätte sie die ethische Berechtigung einer Notlüge, eines Betrugs zum Selbstschutz vertreten – aber kein anderer Freund würde eine Lüge gewissermaßen als eine körperliche Verunreinigung empfinden. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß irgend jemand anders in ihrem Leben verzweifelte, weil er die Stimme der Sonne nicht mehr hörte.
»Zeig mir mehr.« Sie konnte nichts anderes sagen. »Erzähl mir von diesem Ort.«
»Er ist noch in den Anfängen.« Er berührte sie leicht am Arm, wie um ihr für die Ablenkung zu danken. »Es ist nicht damit getan, etwas zu machen, was wie die Heimat meines Volkes aussieht – es muß sich auch so anfühlen, und dafür bin ich noch nicht geschickt genug.« Er setzte sich in Bewegung, und Renie schloß sich ihm an. »Aber ein kleines Stück habe ich jetzt geschaffen, zum Teil auch deshalb, um aus meinen Fehlern zu lernen. Siehst du das da?« Er deutete zum Horizont. Über der Wüstenpfanne, hinter einer Gruppe dorniger Akazien gerade noch zu erkennen, zeichneten sich hohe dunkle Umrisse ab. »Das sind die Tsodilo Hills, ein sehr wichtiger Ort für mein Volk, ein heiliger Ort würdet ihr sagen. Aber
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