Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
mit ein oder zwei Softwareveränderungen – wozu sie abermals den alten Häcker Singh brauchen würden – die Leistung und die Geschwindigkeit herauszuholen, die zum Betrieb der V-Tanks nötig waren.
Sie kratzte mit dem Löffel den letzten Rest der Kasserolle aus, die Jeremiah gekocht hatte, und leistete sich einen kleinen Seufzer der Zufriedenheit. Die Aussichten waren immer noch düster, aber zumindest weitaus weniger hoffnungslos als noch vor ein paar Tagen.
»Renie, wir wollten uns heute abend unterhalten.« Selbst !Xabbus leise Stimme hallte in dem riesigen leeren Speisesaal wider.
»Ein Punkt ist, daß wir fast nichts mehr zu essen haben«, erinnerte Jeremiah sie.
»Es muß hier irgendwo Notvorräte geben«, erwiderte Renie. »Dieser Bunker wurde während der ersten Antarktikakrise gebaut, glaube ich. Wahrscheinlich wurde dafür gesorgt, daß man hier jahrelang von der Außenwelt abgeschnitten sein konnte.«
Jeremiah schaute sie mit unverhohlenem Entsetzen an. »Notvorräte? Meinst du Fleischwürfel und Milchpulver und ähnliches gräßliches Zeug?«
»Weißt du noch, was dir passiert ist, als du das letzte Mal mit deiner Karte einkaufen wolltest? Und wenn man öfter bar bezahlt, erregt man irgendwann Aufmerksamkeit, vor allem außerhalb der Innenstadt. Außerdem haben wir sowieso nicht mehr viel Bargeld.«
»Und was heißt das?« Er deutete auf die Kasserolle. »Keine frischen Lebensmittel mehr?«
Renie holte tief Luft, um nicht die Geduld zu verlieren. »Jeremiah, wir sind hier nicht in den Ferien. Dies hier ist sehr ernst. Die Leute, hinter denen wir her sind, haben Doktor Van Bleeck umgebracht!«
Er warf ihr einen zornigen, gequälten Blick zu. »Das weiß ich.«
»Dann hilf mir! Wir sind überhaupt nur deshalb hier, weil wir so eine Chance haben, in dieses Anderland reinzukommen.«
»Ich find’s immer noch irrsinnig«, bemerkte ihr Vater. »Die ganze Fahrerei, die ganze Arbeit, bloß um so ’nen Computertrick zu machen. Wie soll das alles Stephen helfen?«
»Muß ich es wirklich nochmal erklären? Dieses Anderland ist ein Netzwerk, ein unglaublich großes und schnelles VR-Netzwerk, das nicht seinesgleichen hat, und es ist außerdem geheim – ein Geheimnis, für das Menschen umgebracht werden. Es gehört den Leuten, die Stephen und viele andere Kinder krank gemacht haben, den Leuten, die Doktor Van Bleeck umgebracht und wahrscheinlich unsere Wohnung ausgebombt und mich um meinen Job gebracht haben. Ganz zu schweigen von Herrn Singhs Freunden, die mit ihm daran gearbeitet haben und die jetzt tot sind.
Das sind reiche Leute, mächtige Leute. Niemand kommt an sie ran. Niemand kann sie vor Gericht zitieren. Und selbst wenn wir das könnten, was würden wir sagen? Wir haben nichts in der Hand als Verdächtigungen, und reichlich abstruse Verdächtigungen obendrein.
Deshalb müssen wir in dieses Anderland hinein. Wenn etwas an diesem Netzwerk die Ursache dafür ist, was mit Stephen und andern Kindern passiert ist – wenn sie darüber einen Schwarzmarkthandel mit Organen betreiben oder irgendeinen Kinderpornokult aufziehen oder sonst was im Schilde führen, was wir uns noch nicht mal vorstellen können, ein politisches Machtspiel oder irgendeine Monopolisierung des Weltmarkts –, dann müssen wir Beweise beschaffen.«
Sie blickte sich in der Runde um. Endlich hörte sogar ihr Vater aufmerksam zu. Renie verspürte eine seltene Zuversicht und Festigkeit. »Wenn wir einen V-Tank zum Laufen bringen können, und wenn Singh den Sicherheitswall von Anderland knacken kann, dann gehe ich mit ihm hinein. Die Tanks sind so gebaut, daß sie lange Zeit mit sehr geringem Bedienungsaufwand laufen. Das heißt, daß ihr drei nicht viel zu tun haben werdet, sobald für meine Infusionen und Sauerstoffzufuhr gesorgt ist, vielleicht ab und zu mal was kontrollieren. Ich denke, daß !Xabbu das allein hinkriegen wird.«
»Und was is mit uns?« fragte ihr Vater. »Sollen wir bloß dumm rumsitzen, während du in deinem Geleebad rumplanschst?«
»Ich weiß nicht. Ich denke, genau aus dem Grund müssen wir reden. Um zu planen.«
»Was is mit Stephen? Soll ich einfach nix tun, während der Junge weiter krank in der Klinik liegt? Diese Quarantäne wird doch nich ewig dauern.«
»Ich weiß nicht, Papa. Jeremiah sorgt sich auch um seine Mutter. Aber vergiß nicht, diese Leute schrecken nicht davor zurück, jemand zu ermorden, wenn sie es für nötig halten. Wenn man euch draußen erwischen würde, würdet ihr
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