Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Mund, und die Luft wird durch diese Schläuche rein- und rausgepumpt. Ganz einfach. Solange ihr, du und Jeremiah, das Luftgemisch im Auge behaltet, wird uns nichts passieren.«
Long Joseph schüttelte den Kopf. »Ich kann dich nich abhalten, also versuch ich’s gar nich erst. Aber wenn was schiefgeht, komm nich an und gib mir die Schuld.«
»Vielen Dank für dein Vertrauen.« Sie wandte sich an Jeremiah. »Ich hoffe, du hast wenigstens aufgepaßt.«
»Ich werde alles genau im Auge behalten.« Er blickte ein wenig nervös auf den Wandbildschirm. »Ihr macht jetzt bloß einen Test, richtig? Ihr wollt nur mal kurz reingehen?«
»Vielleicht bloß zehn Minuten, vielleicht ein wenig länger. Nur um sicherzugehen, daß wir alles richtig angeschlossen haben.« Sie starrte die zusammengeklebten Bündel von Glaserfaserkabeln an, die zwischen den beiden Tanks und den altmodischen Prozessoren verliefen. »Achte genau auf die Werte der Lebensfunktionen, ja? Ich hab alles getestet, so gut ich konnte, doch selbst mit Martine und ihren Diagrammen gibt es so viele verdammte Anschlüsse, daß ich mir nicht in jeder Beziehung sicher bin.« Sie drehte sich !Xabbu zu, der seinen Tank seinerseits Verbindung für Verbindung überprüfte, genau wie er es bei ihr gesehen hatte. »Bist du bereit?«
»Wenn du es bist, Renie.«
»Okay. Was sollen wir machen? Ein paar einfache 3D-Manipulationen wie die, die ich dir damals an der TH beigebracht habe? Die müßten eigentlich angenehm vertraut sein.«
»Gewiß. Und dann vielleicht noch etwas.«
»Nämlich?«
»Schauen wir einmal.« Er wandte sich ab, um Maskenanschlüsse zu entwirren, die bestimmt längst entwirrt waren.
Renie zuckte mit den Achseln. »Jeremiah? Kannst du die Tanks jetzt anstellen? Die Hauptstromschalter?«
Es gab ein Knacken und dann ein leises Brummen. Eine Sekunde lang flackerte die Beleuchtung an der Decke. Renie beugte sich vor, um in den Tank zu blicken. Was hartes durchsichtiges Plastik zu sein schien, das den Tank zu drei Vierteln füllte, wurde nebelig trübe. Kurz darauf wurde die Substanz wieder klar, schien aber jetzt eine Flüssigkeit zu sein. Winzige Kräuselungen erschienen auf der Oberfläche, Tausende von konzentrischen Wirbeln wie Fingerabdrücke, aber bevor sie das Gesamtmuster erkennen konnte, legten sich die Kräuselwellen wieder.
»Wie sind die Werte?« fragte sie.
Jeremiah öffnete etliche Fenster auf dem Wandbildschirm. »Alles ist so, wie du es haben wolltest.« Er hörte sich immer noch nervös an.
»Okay. Dann los.« Jetzt, wo der Moment gekommen war, war sie auf einmal beklommen, als ob sie am Rand eines hohen Sprungbretts stände. Sie zog sich ihr Hemd über den Kopf und warf, nur mit BH und Schlüpfer bekleidet, noch einen kurzen Blick in den Tank. Trotz der Wärme des Raumes bekam sie eine Gänsehaut.
Es ist nur ein Interface, sagte sie sich. Bloß Input-Output, wie ein Touchscreen. Laß dich nicht von deinem Vater mit seinem »Strom in der Badewanne« kriegen, Frau. Außerdem müßte das jetzt viel leichter sein als der Ernstfall – keine Katheter, keine Infusionsschläuche und nur einmal kurz eintauchen.
Sie zog sich die Maske übers Gesicht, schob sich die Stöpsel in die Nasenlöcher und rückte die flexible Blase mit dem eingebauten Mikrophon über dem Mund zurecht. Jeremiah hatte die Pumpen bereits angestellt: Abgesehen von einer leichten metallischen Kälte roch und schmeckte die Luft ganz normal. Die Ohrenstöpsel waren kein Problem, aber es war etwas schwieriger, die Okulare richtig zentriert zu bekommen. Als sie sie endlich festgestellt hatte, ließ sie sich blind tastend in den Tank sinken.
Das Gel hatte seine Sollwerte erreicht – Hauttemperatur und die gleiche Dichte wie ihr Körper, so daß sie gewichtslos darin schwebte. Sie streckte langsam die Arme aus, um sich zu vergewissern, daß sie in der Mitte lag. Die Tankwände waren beide außerhalb ihrer Reichweite; sie hing inmitten des Nichts, ein kleiner, kollabierter Stern. Die Dunkelheit und die Stille waren total. Renie wartete im Leeren darauf, daß Jeremiah die Startsequenz auslöste. Es schien lange zu dauern.
Licht sprang ihr in die Augen. Das Universum hatte plötzlich wieder Tiefe, auch wenn es eine unermeßliche graue Tiefe war. Sie spürte eine leichte Druckveränderung, als die Hydraulik den V-Tank mit einer Kippung von neunzig Grad in den Betriebszustand brachte. Sie sank ganz leicht ab. Sie hatte Gewicht, allerdings nicht viel: Das Schwebegefühl wurde
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