Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Horde Netboys auf dem Machotrip.«
»Das ist wirklich eine seltsame Welt, Renie. Ich glaube, ich möchte jetzt zurückgehen.«
Sie hatte recht gehabt – sie hatte ihn zu lange bleiben lassen. »Nicht ›zurück‹«, sagte sie sanft. »Offline. Mit solchen Gedächtnisstützen merkst du dir vielleicht besser, daß dies hier kein realer Ort ist.«
»Na schön, offline.«
»Genau.« Sie bewegte die Hand, und es geschah.
> Das Bier war kalt, !Xabbu war müde, aber glücklich, und Renie fing eben an sich zu entspannen, als sie merkte, daß ihr Pad blinkte. Sie wollte es erst ignorieren – die Batterie war ziemlich leer, und wenn der Strom ausging, passierten oft merkwürdige Dinge –, aber die einzigen dringlichen Mitteilungen waren die von zuhause, und Stephen mußte seit ein paar Stunden aus der Schule zurück sein.
Da der Knoten der Bierschenke nicht funktionierte und ihre schwache Batterie das Signal nicht ausreichend verstärken konnte, um am Tisch eine Verbindung herzustellen, entschuldigte sie sich bei !Xabbu , trat in das grelle spätnachmittägliche Licht der Straße hinaus und hielt blinzelnd Ausschau nach einem öffentlichen Knoten. Knittrige Plastikfetzen, die wie Herbstlaub im Wind wehten, leere Flaschen und Ampullen, die in schmuddeligen Papiertüten im Rinnstein lagen, verrieten, daß die Gegend dafür nicht günstig war. Sie mußte vier lange Häuserblocks weit gehen, bevor sie einen Knoten fand, von Graffiti verunstaltet, aber in Betrieb.
Es war seltsam, den gepflegten Anlagen der TH so nahe und doch in einer ganz anderen Welt zu sein, einer entropischen Welt, in der sich alles in Staub und Müll und abgeblätterte Farbschuppen aufzulösen schien. Sogar die kleine Rasenfläche rings um den öffentlichen Knoten war nur eine Travestie, ein Fleckchen verbrannter Erde mit dürrem, braunem Gras.
Sie fummelte die Steckbuchse des Pads in den Knoten, bis sie einen halbwegs ordentlichen Kontakt hergestellt hatte. Es war eine reine Sprechzelle, und sie hörte, wie ihr Telefon zuhause etliche Male summte, bevor jemand dran ging.
»Was’n los?« nuschelte ihr Vater.
»Papa? Mein Pad zeigt eine Mitteilung an. Hat Stephen mich angerufen?«
»Der Bengel? Nee, Mädel, ich hab. Weil ich nämlich die Nase voll hab von den Mätzchen. Ein Mann hat ein Recht auf seine Ruhe. Dein Bruder, er und seine Freunde ham rumgesaut und Radau gemacht. Sag ich, er soll die Küche aufräumen, sagt er, es is nich sein Job.«
»Es ist auch nicht sein Job. Ich hab ihm gesagt, wenn er sein Zimmer aufräumt -«
»Nich so keß, Mädel. Ihr denkt alle, ihr könnt euerm Vater dumm kommen, als wenn ich gar niemand wär. Jedenfalls, dieser oberschlaue Bengel, ich hab ihn rausgeworfen, ein für allemal, und wenn du nicht kommst und räumst hier auf, werf ich dich gleich hinterher.«
»Was hast du? Was soll das heißen, du hast ihn rausgeworfen?«
In Long Josephs Stimme schwang jetzt ein pfiffiger, selbstzufriedener Ton. »Du verstehst ganz gut. Vor die Tür gesetzt hab ich ihn. Will er Rotzlöffel spielen mit seinen Freunden und Radau machen, kann er bei seinen Freunden wohnen. Ich hab meinen Frieden verdient.«
»Du … du …!« Renie schluckte mühsam. Wenn ihr Vater in dieser Laune war, lechzte er förmlich nach Streit; beduselt und selbstgerecht würde er tagelang damit weitermachen, wenn sie ihm widersprach. »Das war nicht fair. Stephen hat ein Recht darauf, Freunde zu haben.«
»Wenns dir nich paßt, kannst du gleich mit gehen.«
Renie beendete das Gespräch und blickte lange auf einen Streifen kadmiumgelber Farbe, den jemand quer über die Vorderfront des Knotens gesprüht hatte, den langen Schweif eines Graffitibuchstabens von solcher Abstrusität, daß sie ihn nicht entziffern konnte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Es gab Zeiten, da verstand sie die gewalttätigen Impulse, aus denen heraus die Netboys sich gegenseitig mit falschen Gewehren zersiebten. Manchmal verstand sie sogar Leute, die das mit echten Gewehren machten.
Die Buchse blieb in dem öffentlichen Knoten hängen, als sie sie rausziehen wollte. Sie starrte einen Moment lang das abgerissene Kabel an, dann fluchte sie und warf es auf den Boden, wo es liegenblieb wie eine winzige betäubte Schlange.
> »Er ist erst elf! Du kannst ihn nicht rausschmeißen, bloß weil er laut war! Und überhaupt, er muß hier wohnen, das ist Gesetz!«
»Oho, mit dem Gesetz willste mir kommen, Mädel?« Long Josephs Unterhemd hatte Schweißflecken unter
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