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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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deutlicher, als Singhs gewesen war. »Möchtest du…« Ein Zischen übertönte ihn.
    »Ich konnte dich nicht hören. Jeremiah? Kannst du !Xabbu im andern Tank erreichen?«
    »… großer Temperatursturz. Willst du … rausziehe?«
    Sie konnte ja sagen. Es wäre einfach. Ein Wort nur, und sie war aus diesen unheimlichen, lichtlosen Räumen befreit. Aber das konnte sie nicht machen, sie konnte nicht einfach aufgeben. Als klarstes von allen Phantomen, die vor ihrem inneren Auge flackerten, tauchte aus der Leere Stephens Gesicht hinter der knittrigen Transparentfolie des Sauerstoffzeltes auf. Dies – Dunkelheit, Isolation, Nichts – war Tag für Tag seine Wirklichkeit. Und sie hatte nach wenigen Momenten schon solche Angst, daß sie vor ihrer vielleicht einzigen Chance zurückschreckte?
    »Jeremiah, kannst du mich hören? Es gibt Störgeräusche. Sag einfach ja, wenn du mich hörst.«
    Eine Zeitlang nur leises Knistern. Dann eine Silbe. Ja.
    »Okay. Zieh uns nicht raus. Tu gar nichts, solange unsere Werte nicht völlig verrückt spielen und wir gesundheitlich in echter Gefahr sind. Verstehst du? Zieh uns nicht raus!«
    Sie hörte nichts als Knistern.
    Okay, dachte sie. Das war’s. Du hast ihn weggeschickt. Niemand wird jetzt eingreifen und dich retten, selbst wenn … selbst wenn … Hysterisches Weibsbild, langsam wirst du… Sie versuchte, ein ruhiges Zentrum in ihrem Innern zu finden, aber schon wieder zitterte sie am ganzen Leib. Gütiger Himmel, ist das kalt! Was ist bloß los? Was läuft da schief…?
    Etwas formte sich in der Dunkelheit, aber so schwach, daß sie nicht sicher sagen konnte, ob ihr nicht ihre überhitzte Phantasie einen Streich spielte. Ein paar Punkte wurden heller, bis sie wie lumineszierende Pilze in einem Kartoffelkeller leuchteten. Mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtete Renie, wie die Punkte erst zu Linien und dann zu bewegten weißen und grauen Flecken wurden, die sich schließlich in ein lebendiges Bild auflösten, allerdings farbverkehrt wie ein fotografisches Negativ.
    »Singh?«
    Die vor ihr im Leeren hängende Gestalt hob mit merkwürdig phasenverschobenen ruckartigen Bewegungen die Hände hoch. Der Mund formte Worte, aber in ihren Kopfhörern gab es kein Geräusch außer ihrem eigenen flachen Atmen. Der alte Mann hatte denselben fadenscheinigen Bademantel über seinem Schlafanzug an, den sie schon einmal an ihm gesehen hatte. Aber wie konnte das sein? Er hatte sich doch bestimmt einen Sim konstruiert, um seine Identität zu verbergen.
    Die Kälte drückte sie nieder wie eine große schwere Hand und löste regelrechte Zitteranfälle bei ihr aus. Singhs Bild verzerrte sich und dehnte sich aus, bis es ihr ganzes Gesichtsfeld ausfüllte und sich an den Rändern ins Unendliche verlief. Es öffnete einen Mund von der Größe eines Berges, und das Gesicht drumherum verzog sich vor Schmerz. Das Geräusch, das laut wie ein Düsentriebwerk durch ihre Kopfhörer kratzte und dröhnte, war kaum noch als Sprache zu erkennen.
    »…ES…«
    Und selbst durch die mörderische Kälte, die ihren Körper schüttelte, konnte sie jetzt noch etwas anderes spüren, eine Präsenz, die hinter Singhs bizarrer, gigantischer Erscheinung stand wie das endlose Vakuum des Raumes hinter dem blauen Himmel. Sie fühlte, wie dieses Etwas drohend über ihr hing, eine Intelligenz wie eine schlagbereite Faust über einer krabbelnden Mücke, ein reines Gedankending, das dennoch idiotenleer war – kälter als kalt, krank und neugierig und mächtig und vollkommen wahnsinnig.
    Ihre Gedanken flogen davon wie Dachziegel in einem Orkan. Die Hyäne! kreischte ein Teil von ihr. !Xabbus Geschichten und ihre Träume gaben der Furcht einen Namen. Der Verbrannte. Als das Ding sie gleich darauf mit Dunkelheit umhüllte und die Kälte sich in ihre Eingeweide fraß, stieg noch ein anderer Name, den !Xabbu genannt hatte, aus ihrer Erinnerung empor.
    Der Allverschlinger.
    Es stupste sie träge an, beschnüffelte sie, wie ein wildes Tier jemanden beschnüffeln würde, der sich totstellt. Eine eisige Leere, aber mittendrin ein sich windendes Etwas, wie ein Krebsgeschwür. Sie hatte das sichere Gefühl, das Herz würde ihr stehenbleiben.
    Singhs Stimme gellte ihr wieder in den Ohren, ein ungeheures Geheul der Qual und des Grauens. »O GOTT! ES … HAT MICH…« Sein Bild verzerrte und verkehrte sich noch mehr, und Renie schrie entsetzt auf. Eine gräßlich entstellte, aber unbestreitbar reale Darstellung des alten Mannes, wie er genau in

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