Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Laden nicht ausstehen. Hier sieht’s aus, als hätten sie sich alles von irgendeinem Laffen so herrichten lassen, daß die reichen Trottel, die hierherkommen, das Gefühl kriegen, wenn sie mal krank werden, wär’s was anderes, als wenn normale Leute krank werden.«
Ein Schmunzeln zog an Viviens Mundwinkel, aber sie unterdrückte es, so gut es ging. »Kein Mensch verlangt, daß es dir hier gefällt. Aber schließlich geht es um deine Gesundheit…«
»Nein, es geht darum, ob ich diesmal an Lungenentzündung sterbe oder nächste Woche oder nächsten Monat an irgendwas anderm.« Die Brutalität seiner Worte ließ sie verstummen. Er glitt vom Untersuchungstisch und begann sich das Hemd anzuziehen. Schon das war eine Anstrengung, die ihn erschöpfte und ihm den Atem benahm. Er wandte den Blick ab, um zu verbergen, wie elend er sich fühlte. Es sollte nicht zu sehr nach einem schlechten Film aussehen.
Als er sich wieder umdrehte, weinte sie. »Sag doch nicht sowas, Orlando.«
Er legte den Arm um sie, aber gleichzeitig wurde er wütend. Wieso sollte er sie trösten? Über wem schwebte denn das Todesurteil?
»Besorg mir einfach die Medikamente. Die nette Apothekerin wird sie uns geben, und wir tun sie zum übrigen Haufen dazu. Bitte, Vivien, laß uns nach Hause gehen. Es heißt, es wäre wichtig, daß der Patient sich wohl fühlt. In diesem dämlichen Krankenhaus werde ich bestimmt nicht gesünder werden.«
Vivien wischte sich die Augen. »Wir werden mit deinem Vater darüber reden.«
Orlando manövrierte sich in den Rollstuhl zurück. Er fühlte sich in der Tat ziemlich gedumpft, fiebrig und langsam. Jeder Atemzug ging rasselnd, und er wußte, daß er im Moment nicht einmal die Kraft hatte, durch das Crown Heights Medical Center zum Auto zurückzugehen, und schon gar nicht die halbe Meile über den Komplex zu ihrem Haus. Aber verflucht sollte er sein, wenn er sich in dieses blöde Krankenhaus stecken ließ! Zum Beispiel konnte man dort versuchen, ihn nicht ins Netz zu lassen – Ärzte und Schwestern kamen manchmal auf beknackte Ideen, und gerade jetzt durfte er dieses Risiko auf keinen Fall eingehen. Er hatte schon zweimal eine Lungenentzündung gehabt und sie überlebt, doch ein Klacks war es beide Male nicht gewesen.
Aber als Vivien ihn jetzt den Korridor hinunter zur pharmazeutischen Abteilung schob – der Pflasteria, wie Orlando sie nannte –, wurde er dennoch die Frage nicht los, ob dies jetzt das Ende der Fahnenstange war. Vielleicht war er bereits zum letztenmal allein irgendwo hingegangen. Das war eine grauenhafte Vorstellung. Man müßte an irgendwas erkennen können, wann man etwas zum letztenmal machte, damit man es wirklich genießen konnte. Eine Meldung sollte unten über den Rand des Gesichtsfeldes kriechen, etwa so, wie wenn man im Netz die Nachrichtenzeile laufen hatte. Der vierzehnjährige Orlando Gardiner aus San Mateo in Kalifornien hat soeben zum letztenmal im Leben Eis gegessen. Mit seinem letzten Lachen wird irgendwann nächste Woche gerechnet.
»Woran denkst du, Orlando?« fragte seine Mutter.
Er schüttelte den Kopf.
Golden und faszinierend stand die Stadt vor ihm mit ihren unglaublich hohen, von innen heraus schimmernden Türmen. Das einzige auf der Welt, was er wirklich haben wollte, wartete in diesem Lichtergewirr auf ihn. Er tat einen Schritt darauf zu, dann noch einen, aber die funkelnden Türme wackelten und verschwanden. Kalte, nasse Dunkelheit umgab ihn plötzlich. Ein Spiegelbild! Er hatte sich auf ein Spiegelbild im Wasser gestürzt, und jetzt war er am Ertrinken und bekam keine Luft mehr, weil schwarze Flüssigkeiten in ihn einströmten…
Der Atem rasselte ihm in den Lungen, als er sich hochstemmte. Sein Kopf fühlte sich an wie ein heißer Ballon.
»Boß?« Beezle surrte in der Ecke und machte sich von der Steckdose los.
Orlando winkte ab, während er darum rang, durch den Schleim hindurch Luft zu bekommen. Er schlug sich auf die Brust und hustete. Er beugte sich über die Bettkante, daß ihm das Blut in den pochenden Schädel schoß, und spuckte in den Arzneiabfalleimer.
»Alles okay«, keuchte er, als er wieder atmen konnte. »Ich will nicht reden.« Er angelte sich seine T-Buchse vom Nachttisch und klickte sie in die Neurokanüle.
»Bist du sicher, daß alles okay ist? Ich könnte deine Eltern wecken.«
»Untersteh dich. Ich hab… es war bloß ein Traum.«
Beezle, dessen Programmierung über Träume wenig mehr enthielt als die Fähigkeit, auf entsprechende
Weitere Kostenlose Bücher