Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
literarische und wissenschaftliche Quellen zuzugreifen, erwiderte nichts darauf. »Es gab zwei Anrufe dir dich. Willst du sie hören?«
Orlando warf einen Blick auf die Zeitanzeige, die am oberen rechten Rand seines Gesichtsfeldes blau leuchtend von den düsteren Gardinen dahinter abstach. »Es ist fast vier Uhr morgens. Wer hat angerufen?«
»Fredericks, beide Male.«
»Tschi-sin! Okay, ruf zurück.«
Fredericks’ breites Simgesicht erschien gähnend, aber dennoch irgendwie nervös wirkend im Fenster. »Menschenskind, Gardino, ich dachte schon, du würdest dich heute nacht nicht mehr melden.«
»Wieso, was gibt’s? Du willst doch nicht etwa kneifen, oder?«
Fredericks zögerte. Orlando fühlte ein steinernes Gewicht in seinem Magen. »Ich … ich hab gestern in der Schule mit ein paar Leuten geredet. Ein Junge, den sie kennen, ist festgenommen worden, weil er in irgendein Behördensystem eingebrochen ist. Eigentlich hat er sich bloß einen Jux gemacht, nur’n bißchen rumgespitzelt, und trotzdem ist er von der Schule geflogen und hat drei Monate Erziehungsknast aufgebrummt gekriegt.«
»Und das heißt?« Orlando stellte seinen Sprechkanal leise, um abermals Schleim abzuhusten. Er fühlte sich der Situation nicht gewachsen. Er hatte nicht die Kraft, allein weiterzumachen – merkte Fredericks das denn nicht?
»Das heißt… das heißt, daß die Behörden und die großen Konzerne zur Zeit echt hart durchgreifen. Die Zeit ist ungünstig, um an den Systemen von andern Leuten rumzupfuschen, Orlando. Ich will nicht… Versteh doch, meine Eltern würden …« Fredericks versagte die Stimme, und auf seinem Stiergesicht stand so etwas wie eine dümmliche Besorgtheit. Einen Moment lang haßte Orlando ihn oder sie.
»Und wann wäre die Zeit günstig? Laß mich raten – nie?«
»Was soll das, Orlando? Ich hab dich das schon mal gefragt – warum ist dir diese Stadt, oder was du sonst gesehen hast, so verdammt wichtig? Herrje, du hast dich auf Jahre hinaus verpflichtet, für irgend so ’nen Gearladen zu arbeiten, bloß damit du versuchen kannst, ein bißchen näher an diese Chimäre ranzukommen.«
Orlando lachte bitter – Indigo Gear hatte in etwa so viel Chancen, Blut aus einer Billardkugel zu pressen, wie Jahre seines Lebens auszuschlachten. Dann verflog der Zorn plötzlich, und zurück blieb nur eine vakuumartige Leere. Hier in diesem dunklen Zimmer, nur wenige Meter von seinen Eltern entfernt und mit seinem Freund am anderen Ende der Leitung, fühlte er sich auf einmal ganz und gar einsam und verlassen.
»Ich kann’s nicht erklären«, sagte er leise. »Es geht einfach nicht.«
Fredericks sah ihn an. »Versuch’s.«
»Ich …« Er holte Atem, grunzte. Letzten Endes war es nicht zu erklären. »Ich habe Träume. Ich träume die ganze Zeit von dieser Stadt. Und … in den Träumen weiß ich, daß dort etwas ist, etwas Wichtiges, das ich finden muß.« Er holte abermals mühsam Luft. »Muß.«
»Aber warum? Und selbst wenn du … wenn du diese Stadt wirklich finden mußt, wozu die Eile? Wir sind grade erst aus dem TreeHouse-Netzwerk rausgeflogen – sollten wir nicht lieber ein Weilchen warten?«
»Ich kann nicht warten.« Nachdem er es ausgesprochen hatte, wußte er, daß er alles sagen würde, wenn Fredericks fragte. Die Worte hingen in der Luft, als ob er sie sehen könnte, als ob sie in der nächtlichen Düsternis wie Uhrziffern leuchteten.
»Du kannst nicht warten?« Fredericks sagte es langsam, als ahnte er etwas.
»Ich … ich hab nicht mehr sehr lange zu leben.« Es war, als würde man sich in aller Öffentlichkeit ausziehen – ein erschreckendes Gefühl, aber dann eine Art frostiger Freiheit. »Ich liege mehr oder weniger im Sterben.« Das Schweigen zog sich so lange hin, daß Orlando ohne das Bild, das er vom Sim seines Freundes sah, gedacht hätte, Fredericks hätte die Verbindung gekappt. »Oh, mach schon, sag irgendwas.«
»Orlando, ich … O mein Gott, echt?«
»Echt. Es ist keine große Tragödie – ich weiß das schon lange, heißt das. Ich hab’s von Geburt an … so ’ne erbliche Sache. Nennt sich Progerie. Vielleicht hast du mal was davon gehört, einen Bericht gesehen …«
Fredericks sagte nichts.
Orlando hatte Mühe, Atem zu bekommen. Das Schweigen hing in der Luft, ein unsichtbares und qualvolles Band zwischen zwei dreitausend Meilen auseinander liegenden Schlafzimmern. »Progerie«, sagte er schließlich. »Das bedeutet, daß du alt wirst, obwohl du noch jung
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