Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Außerdem hatte Herr Sellars ihr gesagt, daß es passieren würde, und sie war mit ihrem Spezialauftrag sowieso schon fast fertig.
Sie trat von dem Tuch zurück, hielt das Plastikröhrchen hoch und drückte auf den Knopf. Ein Funke flammte auf. Obwohl sie damit gerechnet hatte, erschrak sie und ließ das Plastikding fallen, das klappernd auf den Garagenboden fiel und seitlich wegsprang. Der Boden lag in tiefer, schwarzer Finsternis. Sie konnte nichts erkennen.
Bumm, bumm machte ihr Herz, als ob ein Vogel in ihrer Brust eingesperrt wäre und zu entkommen versuchte. Was war, wenn sie das Plastikröhrchen verloren hatte? Dann würde Herr Sellars Schwierigkeiten bekommen – er hatte gesagt, es sei sehr sehr wichtig –, und vielleicht würde auch sie Schwierigkeiten bekommen, und ihre Mami und ihr Papi wären ganz böse, vielleicht würde Herr Sellars sogar ins Gefängnis kommen. Christabel ging auf Hände und Knie und suchte. Sofort legte sie ihre Hände auf etwas Trockenes und Raschliges. Sie wollte wieder schreien, aber obwohl sie sich wirklich davor fürchtete, was da unten sein mochte (Spinnen, Würmer, Schlangen, noch mehr Spinnen, Gerippe wie im Spukhaus), mußte sie weitersuchen, sie mußte einfach. Herr Sellars hatte gesagt, sie müßte es dann tun, wenn die Straßenlaterne ausging. Das hatte er gesagt! Christabel fing an zu weinen.
Nach sehr langer Zeit fühlte sie schließlich das glatte Plastik unter den Fingern. Schniefend rappelte sie sich auf und tastete sich zum Heck des Wagens zurück. Sie hielt das Ding weit von sich weg, damit sie nicht so erschrak, dann drückte sie auf den Knopf. Der Funke sprang auf und wurde zur Flamme. Sie nahm das Ende des Tuches – vorsichtig, genau wie Herr Sellars gesagt hatte – und hielt es an das Feuer. Das Tuch fing an zu brennen, aber es gab kein großes Feuer, bloß einen blauen Rand, der rauchte. Sie klemmte ihre Handschuhe in die Öffnung, damit das Nummernschild nicht wieder zuklappte, dann zog sie das brennende Ende des Tuches so weit vom Auto weg, wie es ging, bevor sie es auf den Boden fallen ließ. Sie verließ schnell die Garage, wobei sie sich den letzten Reim des Gedichtes vorsagte, teils um sicherzugehen, daß sie es sich gemerkt hatte, teils weil sie richtig Angst hatte. Draußen drückte sie den Knopf an der Wand, und das Garagentor senkte sich zischend.
Jetzt, wo fast alles erledigt war, drehte Christabel sich um und lief die Redland Road hinauf, so schnell sie konnte. Alle Häuser waren dunkel, aber jetzt waren auch alle Straßenlaternen aus, und so erhellten ihr beim Laufen nur die Sterne den Weg. Als sie um die Ecke bog und die Stillwell Lane entlangeilte, warf sie den Plastikfeuermacher irgendwo ins Gebüsch. Sie hatte gerade den Rasen vor ihrem Haus erreicht, als plötzlich alle Straßenlaternen wieder zu leuchten anfingen. Sie rannte schleunig zur Haustür.
Christabel hatte die Alarmanlage vergessen. Als sie die Tür aufdrückte, begannen im ganzen Haus Lautsprecher zu surren und erschreckten sie so, daß sie sich fast in die Hose gemacht hätte. Über den gräßlichen Lärm hinweg hörte sie ihren Vater rufen. Entsetzt lief sie so schnell, wie sie konnte, und war kaum zur Tür ihres Zimmer hinein, als schon die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern aufknallte. Sie warf hastig Mantel, Schuhe und Kleider von sich und betete, daß sie ja nicht hineinkamen. Sie hatte gerade ihren Schlafanzug an, als ihre Mutter hereinstürzte.
»Christabel? Alles in Ordnung? Hab keine Angst – es ist der Türalarm, aber ich glaube, er ist aus Versehen losgegangen.«
»Ein Stromausfall, glaube ich«, rief ihr Vater unten vom Flur herauf. »Die Wandbildschirme sind alle aus, und meine Uhr ist beinahe eine Stunde weiter als die Küchenuhr. Die muß den Alarm ausgelöst haben, als sie wieder anging.«
Christabel war eben von ihrer Mutter wieder fest eingemummelt worden und spürte, wie ihr Herz sich langsam beruhigte, während sie sich unter die Decken kuschelte, als die Flamme schließlich den Benzintank in Herrn Sellars’ Cadillac erreichte. Es tat einen Knall, als ob Gott selber in die Hände geklatscht hätte, und im Umkreis von vielen Meilen klapperten die Fenster und wurden fast alle auf dem Stützpunkt wach. Christabel schrie.
Ihre Mutter kam wieder ins Zimmer, und diesmal setzte sie sich im Dunkeln zu ihr, rieb ihr den Nacken und redete auf sie ein, sie brauche keine Angst zu haben, es sei eine Gasleitung oder sowas gewesen, ganz weit weg. Christabel
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