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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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dieser Ort nicht minder. Die Welt um sie herum war zu real. Sie machte die Augen zu und wieder auf. Der Urwald ging nicht weg.
    Fassungslos fing sie an zu weinen.
     
    Es ist unmöglich. Schon eine halbe Stunde lang kämpfte sie sich durch die dichte Vegetation. Diese Detailgenauigkeit – und über so viele Meilen! Und es gibt überhaupt keine Verzögerung! Es kann einfach nicht sein.
    Ein Insekt brummte vorbei. Renie streckte blitzschnell die Hand aus und fühlte, wie der winzige Körper gegen ihren Fingerknöchel stieß und abprallte. Einen Augenblick später hatte sich das schillernde geflügelte Wesen wieder gefangen und flog im Zickzack davon.
    Keine erkennbare Verzögerung, selbst auf dieser Komplexitätsstufe nicht. Was hatte Singh gesagt – Billionen und Aberbillionen Befehle pro Sekunde? So etwas ist mir noch nie zu Ohren gekommen. Plötzlich begriff sie, warum die goldene Stadt so eindrucksvoll ausgesehen hatte. Auf dieser Stufe der Technik war fast alles möglich.
    » !Xabbu !« rief sie wieder. »Martine! Hallo!« Dann, ein bißchen leiser: »Jeremiah? Funktioniert die Leitung noch? Kannst du mich hören? Jeremiah?«
    Niemand gab Antwort außer den Vögeln.
    Was nun? Wenn sie sich tatsächlich in dem Netzwerk namens Otherland befand und wenn dieses so groß war, wie Singh gesagt hatte, konnte sie so entsetzlich weit von jedem brauchbaren Standort entfernt sein wie jemand in der Antarktis von einem ägyptischen Café. Wo hatte Singh anfangen wollen?
    Das Gewicht der Hoffnungslosigkeit drohte sie einen Moment lang völlig zu erdrücken. Sie dachte daran, einfach offline zu gehen, aber verwarf den Gedanken schon nach kurzer Überlegung. Singh war in dieser … Dunkelheit umgekommen (weiter traute sie sich nicht darüber nachzudenken, was geschehen sein mochte), um sie alle hierherzubringen. Es wäre ein furchtbarer Verrat, wenn sie jetzt nicht weiterginge. Aber wohin?
    Sie probierte rasch eine Reihe von Sondierungsbefehlen durch, aber ohne Ergebnis. Keine der üblichen VR-Kommandosprachen schien zu gelten, oder man brauchte als Benutzer besondere Genehmigungen zur Bearbeitung des Environment, die sie schlicht und einfach nicht hatte.
    Irgendwelche Leute haben unvorstellbar viel Zeit und Geld darauf verwandt, sich eine Welt zu bauen. Vielleicht spielen sie gern Gott – vielleicht kann man als Außenstehender gar nichts anderes machen, als diesen Ort zu besuchen und möglichst viel mitzukriegen.
    Renie blickte nach oben. Die Schatten der Bäume hatten den Winkel verändert, und der Himmel schien kaum merklich dunkler geworden zu sein. Alles andere ist genau wie im RL, dachte sie. Vielleicht sollte ich daran denken, mir ein Feuer zu machen. Wer weiß, was sich hier nachts herumtreibt?
    Die Unmöglichkeit ihrer Situation drohte abermals, sie zu erschlagen, aber unter der Bestürzung, Verwirrung und Verzweiflung schwelte auch ein winziges Fünkchen galligen Humors. Wer hätte je gedacht, daß ihre kostbare, sauer verdiente Universitätsbildung, die sie nach allgemeinem Dafürhalten erst richtig zu einem Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts hätte machen sollen, statt dessen dazu geführt hatte, daß sie imaginäre Feuer in imaginären Urwäldern machte, um imaginäre wilde Tiere abzuschrecken?
    Herzlichen Glückwunsch, Renie. Du bist jetzt eine offizielle imaginäre Primitive.
     
    Es war aussichtslos. Selbst mit dem Trick, den !Xabbu ihr gezeigt hatte, brachte sie keinen einzigen Funken zustande. Das Holz hatte zu lange auf dem feuchten Boden gelegen.
    Wer diesen verfluchten Ort erfunden hat, muß ein totaler Pingel gewesen sein. Hätte er nicht wenigstens ein paar trockene Stöcke herumliegen lassen können …?
    Es raschelte im Gebüsch. Renie schoß hoch und packte einen der Äste in der Hoffnung, daß er als Knüppel bessere Dienste tat denn als Brennholz.
    Wovor hast du Angst? Es ist eine Simulation. Soll doch irgendein wilder Leopard oder sonstwas aus der Dunkelheit kommen und dich zerreißen, na wenn schon!
    Aber das würde sie wahrscheinlich aus dem Netzwerk hinauskatapultieren – ausgespielt. Damit hätte sie Singh nur auf andere Weise verraten, Singh, Stephen, alle.
    Und außerdem fühlt sich das alles hier viel zu scheißreal an. Ich will gar nicht wissen, wie sie mich als Abendessen irgendeiner Bestie simulieren würden.
    Der freie Platz, auf dem sie sich niedergelassen hatte, war kaum drei Meter breit. Das durch das Laubwerk sickernde Mondlicht war hell, aber dennoch war es nur Mondlicht:

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