Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
zusehen, daß wir aus diesem Urwald hinauskommen, denke ich. Dann werden wir mehr erfahren können.« Er wiegte sich im Sitzen hin und her und hielt dabei seinen Schwanz in der Hand. »Immerhin habe ich eine Vermutung darüber, wo wir sind. Und auch darüber, in welcher Zeit wir uns befinden.«
»Unmöglich! Wie soll das gehen? Bist du vielleicht an einem Straßenschild vorbeigekommen, bevor du mich getroffen hast? Oder an der Touristeninformation?«
Er legte seine Stirn in Falten, ein wahres Inbild äffischer Indigniertheit. »Es ist nur eine Vermutung, Renie. Es gibt so viel, was wir über dieses Netzwerk und seine Simulationen nicht wissen, daher kann ich mich irren. Aber zum Teil muß man bloß ein wenig kombinieren. Sieh dich um. Dies ist ein Urwald, ein Regenwald wie in Kamerun. Aber wo sind die Tiere?«
»Ein paar hab ich gesehen. Und ich sitze neben einem.«
Er ignorierte die Bemerkung. »Ein paar, mehr nicht. Und es gibt hier nicht so viele Vögel, wie man in einer solchen Umgebung erwarten würde.«
»Das heißt?«
»Das heißt, daß wir wahrscheinlich ziemlich dicht am Rand des Waldes sind und daß es in der Nähe entweder eine große Stadt oder irgendwelche Industrie gibt. So habe ich es schon in der wirklichen Welt erlebt. Eines von beiden hätte viele der Tiere vertrieben.«
Renie nickte langsam. !Xabbu hatte ein feines Empfinden, aber er war auch schlicht und einfach klug. Wegen seiner kleinen Statur und der altmodischen Förmlichkeit seiner Kleidung und seiner Redeweise war es manchmal leicht gewesen, ihn zu unterschätzen. Dieser Fehler konnte einem noch leichter unterlaufen, solange er in seiner jetzigen Gestalt herumspazierte. »Oder, wenn dies eine erfundene Welt ist, könnte jemand sie auch einfach so angelegt haben«, wandte sie ein.
»Vielleicht. Aber ich glaube, wir haben gute Chancen, nicht weit von Menschen entfernt zu sein.«
»Und was ist mit der Zeit?«
»Wenn die Tiere vertrieben wurden, dann nehme ich an, daß der Stand der Technik in … in dieser Welt… nicht weit hinter unserem eigenen zurück oder ihm sogar voraus ist. Außerdem hängt ein scharfer Geruch in der Luft, der vermutlich zu diesem Ort gehört und nicht bloß ein Zufallsprodukt unserer V-Tanks ist. Ich habe ihn nur gerochen, als der Wind umschlug, kurz bevor ich dich fand.«
Renie, der das Feuer ein überraschend großes Behagen bereitete, begnügte sich damit, für den kleinen Holmes den Watson zu spielen. »Und dieser Geruch ist…?«
»Das kann ich nicht sicher sagen, aber es ist ein Rauch, der von etwas Modernerem kommt als von einem Holzfeuer – ich rieche Metall darin, und Öl.«
»Warten wir’s ab. Ich hoffe, du hast recht. Wenn wir eine lange Suche vor uns haben, wäre es angenehm, wenn heiße Duschen und warme Betten mit zum Schauplatz des Geschehens gehören würden.«
Sie schwiegen eine Weile und lauschten dem Knistern des Feuers. Ein paar Vögel und etwas, das sich wie ein Affe anhörte, riefen oben in den Bäumen.
»Was ist mit Martine?« fragte Renie plötzlich. »Könntest du deine Paviannase dazu benutzen, sie aufzuspüren?«
»Vielleicht, wenn wir ihr nahe genug wären, wobei ich allerdings nicht weiß, welchen Geruch sie in dieser Simulation hat. Aber hier in der Nähe gibt es nirgends etwas, was wie du riecht – und das ist der einzige Anhaltspunkt für menschlichen Geruch, den ich habe.«
Renie blickte am Feuer vorbei ins Dunkel. Da sie und !Xabbu einigermaßen dicht beieinander gelandet waren, war Martine ja vielleicht auch nicht weit weg. Falls sie überlebt hatte.
» !Xabbu , was hast du beim Durchkommen erlebt?«
Bei seiner Schilderung bekam sie wieder eine Gänsehaut, erfuhr aber nichts Neues.
»… Das Letzte, was ich Herrn Singh sagen hörte, war, es sei lebendig«, schloß er. »Dann war mir, als ob noch viele andere Wesenheiten zugegen wären, als ob ich von Geistern umringt wäre. Genau wie du wachte ich allein und konfus im Wald auf.«
»Hast du eine Ahnung, was … dieses Ding war? Das Ding, das uns packte und … und Singh tötete? Es hatte jedenfalls keine Ähnlichkeit mit einem Sicherheitsprogramm, von dem ich je gehört hätte, das kann ich dir sagen.«
»Es war der Allverschlinger.« Er sagte es mit fragloser Bestimmtheit.
»Wovon redest du?«
»Er ist das Wesen, das das Leben haßt, weil es selber leer ist. In meinem Volk erzählt man sich eine berühmte Geschichte von den letzten Tagen des Großvaters Mantis, wie da der Allverschlinger an sein Lagerfeuer
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