Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Jedes Wesen, das groß genug war, um sie anzugreifen, hatte sie wahrscheinlich schon gepackt, bevor sie überhaupt reagieren konnte. Und sie konnte sich nicht einmal auf mögliche Gefahren einstellen, weil sie keine Ahnung hatte, wo sie eigentlich sein sollte. In Afrika? Im prähistorischen Asien? In einem reinen Phantasieland? Wer sich eine derartige Stadt ausdenken konnte, konnte sicher auch jede Menge Monster erfinden.
Das Geräusch wurde lauter. Renie versuchte sich auf die Dinge zu besinnen, die sie in Büchern gelesen hatte. Die meisten Tiere, meinte sie sich zu erinnern, hatten mehr Angst vor einem als man vor ihnen. Selbst die großen wie die Löwen gingen den Menschen lieber aus dem Weg.
Immer unter der Voraussetzung, daß wir es mit so etwas wie wirklichen Tieren zu tun haben.
Sie schob diesen demoralisierenden Gedanken beiseite und beschloß, statt sich furchtsam zusammenzukauern und zu hoffen, daß niemand sie entdeckte, wäre es klüger, sich deutlich bemerkbar zu machen. Sie holte tief Luft und fing laut zu singen an.
»Genom-Krieger
Voller Mut,
Schlagen Mutarrs üble Brut,
Scheiden sicher Schlecht und Gut,
Starke Genom-Krieger…!«
Es war peinlich, aber im Augenblick war der Erkennungssong der Kindershow – eines von Stephens Lieblingsliedern – das einzige, was ihr in den Sinn kam.
»Das Mutanten-Superhirn
Will die ganze Menschheit kirren,
Plant hinter der finstern Stirn,
Erbanlagen zu verwirren …«
Das Rascheln wurde noch lauter. Renie brach ihr Lied ab und erhob den Knüppel. Ein merkwürdiges Zotteltier, dem Aussehen nach ein Mittelding zwischen Ratte und Schwein und der Größe nach eher das letztere, betrat die Lichtung. Renie erstarrte. Das Tier hob kurz die Schnauze und schnupperte, aber schien sie nicht zu bemerken. Gleich dahinter kamen zwei kleinere Ausführungen des ersten aus dem Dickicht gewuselt. Die Mutter gab ein leises Grunzen von sich und scheuchte ihre Sprößlinge zurück ins Gebüsch, sehr zur Erleichterung der erschrockenen Renie.
Das Wesen war ihr einigermaßen vertraut vorgekommen, aber sie konnte auf keinen Fall behaupten, daß sie es erkannt hätte. Sie hatte immer noch keine Ahnung, wo sie sein sollte.
»Genom-Krieger…!«
Wieder sang sie, diesmal noch lauter. Anscheinend hatte die hiesige Fauna, wenigstens nach dieser Begegnung mit der Schweineratte, oder was es sonst war, zu urteilen, keinen Begriff davon, daß man sich vor Menschen in Acht nehmen mußte.
»…Ins Gefecht!
Mit Chromoschwertern haut und stecht,
Die Mutomix-Maschine brecht,
Starke Genom-Krieger!«
Der Mond war direkt über ihr aufgegangen, und sie hatte ihr ganzes Repertoire durchgesungen – Popsongs, Lieder aus diversen Netshows, Kinderlieder und Stammeshymnen –, als sie eine leise Stimme zu hören meinte, die ihren Namen rief.
Sie stand auf und wollte schon zurückrufen, als sie innehielt. Sie befand sich nicht mehr in ihrer eigenen Welt – sie war ganz offensichtlich im Traum eines anderen gefangen –, und sie konnte die Erinnerung an das dunkle Etwas, das Singh getötet hatte und mit ihr wie mit einem Spielzeug umgesprungen war, nicht abschütteln. Vielleicht hatte dieses sonderbare Betriebssystem, oder was es auch war, sie beim Durchschlüpfen verloren, aber suchte jetzt nach ihr. Es hörte sich absurd an, aber die grauenhafte lebendige Finsternis, gefolgt von der überwältigenden Lebensechtheit dieses Ortes, hatte sie zutiefst erschüttert.
Bevor sie sich entscheiden konnte, was sie tun sollte, wurde ihr die Entscheidung abgenommen. Die Blätter über ihr raschelten, und dann plumpste etwas auf die Lichtung. Der Ankömmling hatte einen Kopf wie ein Hund und Augen, in denen sich gelb der Mond spiegelte. Renie wollte schreien, aber konnte nicht. Mit einem erstickten Laut raffte sie den dicken Ast auf. Das Tier hüpfte zurück und erhob überraschend menschliche Vorderpfoten.
»Renie! Ich bin’s! !Xabbu !«
» !Xabbu ! Was … bist du’s wirklich?«
Der Pavian ging in die Hocke. »Ich schwöre es. Erinnerst du dich an die Leute, die auf den Fersen sitzen? Ich habe ihre Gestalt, aber hinter der Gestalt bin ich.«
»O mein Gott.« Die Stimme war nicht zu verwechseln. Warum hätte jemand, der !Xabbus Stimme so perfekt kopieren konnte, einen Betrüger in so einer frappierenden Gestalt schicken sollen? »O mein Gott, du bist es wirklich!«
Sie stürzte vor und nahm den haarigen Tierkörper auf den Arm, drückte ihn an sich und
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