Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
kam.« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich werde sie nicht hier erzählen, nicht jetzt. Es ist eine wichtige Geschichte, aber sie ist traurig und furchterregend.«
»Na, was immer das für ein Wesen war, ich möchte nicht nochmal in seine Nähe kommen. Es war schlimmer als diese Kali-Kanaille in Mister J’s.« Doch wenn sie darüber nachdachte, hatte es durchaus gewisse Ähnlichkeiten zwischen den beiden gegeben, vor allem die Tatsache, daß sie anscheinend mit virtuellen Medien physische Veränderungen bewirken konnten. Welche Verbindung mochte zwischen ihnen bestehen, und konnte ein Vergleich mit der Kali und den Vorfällen in dem Club ihr helfen, das Ding zu verstehen, das !Xabbu den Allverschlinger nannte? Konnte irgend etwas ihnen helfen, es zu verstehen?
Renie gähnte. Es war ein langer Tag gewesen. Ihr Gehirn wollte nicht mehr arbeiten. Sie rückte nach hinten an einen Baumstamm. Wenigstens wimmelte diese tropische Simulation nicht allzu sehr von Insekten. Vielleicht konnte sie sogar eine Mütze voll Schlaf bekommen.
» !Xabbu , magst du zu mir rüberkommen? Ich werde langsam müde, und ich weiß nicht, wie lange ich noch wach bleiben kann.«
Er sah sie einen Moment lang schweigend an und ging dann auf allen vieren über die kleine Lichtung. Er hockte sich ein wenig verlegen neben sie, dann streckte er sich aus und legte seinen Kopf auf ihre Schenkel. Sie streichelte gedankenverloren sein Nackenfell.
»Ich bin froh, daß du da bist. Ich weiß, daß du, mein Vater und Jeremiah in Wirklichkeit nur wenige Meter von mir entfernt seid, aber dennoch habe ich mich beim Aufwachen schrecklich einsam gefühlt. Es wäre viel schlimmer gewesen, wenn ich die ganze Nacht hier allein hätte verbringen müssen.«
!Xabbu sagte nichts, er streckte nur einen langen Arm aus, tätschelte ihren Kopf und berührte dann mit seinem haarlosen Affenfinger leicht ihre Nase. Renie fühlte, wie sie in den ersehnten Schlaf sank.
> »Ich kann das Ende des Waldes sehen«, rief !Xabbu zwanzig Meter über ihr. »Da ist auch eine Siedlung.«
Renie marschierte ungeduldig am Fuß des Baumes auf und ab. »Siedlung? Wie sieht sie aus?«
»Das kann ich von hier nicht erkennen.« Er trat weiter auf den Ast hinaus, der in einer Weise schwankte, daß Renie ganz nervös wurde. »Sie ist mindestens zwei Kilometer entfernt. Aber es steigt Rauch auf, und es gibt Häuser. Sie sehen sehr einfach aus.«
Er hangelte sich hurtig hinunter und ließ sich dann neben ihr auf den weichen Boden fallen. »Ich habe einen Pfad gesehen, der einen guten Eindruck macht, aber der Dschungel ist sehr dicht. Ich werde bald wieder hochklettern und schauen müssen, oder wir werden den ganzen Tag damit zu tun haben, uns einen Weg zu bahnen.«
»Dir macht das Spaß, was? Bloß weil wir zufällig in einem Urwald gelandet sind, erscheint deine Pavianidee brillant. Aber wenn es uns nun in ein Bürogebäude oder sowas in der Art verschlagen hätte?«
»Komm. Wir haben uns schon über einen halben Tag hier aufgehalten.« Er hoppelte los. Renie kam etwas langsamer hinterdrein, nicht ohne die dichte Vegetation zu verfluchen.
Ein toller Pfad, dachte sie.
Sie standen in der schützenden Dunkelheit des Waldrandes. Vor ihnen lag ein abfallender Hang, dessen rötlicher Schlamm mit den Stümpfen gefällter Bäume gespickt und von den Schleifspuren ihres Abtransports zerfurcht war.
»Es ist ein Holzfällerlager«, flüsterte Renie. »Sieht modern aus. Mehr oder weniger.«
Eine Anzahl großer Fahrzeuge war unten auf dem gerodeten Gelände geparkt. Dazwischen herumhuschende kleine Gestalten reinigten und warteten sie wie Mahauts, die ihre Elefanten versorgten. Die Maschinen waren mächtig und eindrucksvoll, aber nach dem, was Renie erkennen konnte, gab es auch merkwürdige Anachronismen. Keine hatte die panzerartigen Gleisketten, die sie sonst von schweren Baufahrzeugen kannte; statt dessen hatten sie dicke, mit Stollen besetzte Reifen. Mehrere fuhren allem Anschein nach mit Dampfantrieb.
Die in einer Reihe stehenden Hütten dahinter, deutlich aus einem vorgefertigten Material gebaut, waren jedoch von Baracken, die sie in den Randgebieten von Durban gesehen hatte, nicht zu unterscheiden. Ja, sie kannte sogar Leute, zum Teil Studenten von ihr, die ihr ganzes Leben in solchen Hütten verbracht hatten.
»Denk dran, daß du in meiner Nähe bleibst«, sagte sie. »Wir wissen nicht, was für ein Verhältnis sie hier zu wilden Tieren haben, aber wenn du meine Hand hältst,
Weitere Kostenlose Bücher