Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
werden sie dich wahrscheinlich als Haustier akzeptieren.«
!Xabbu lernte allmählich, sich mit der Pavianmimik recht gut auszudrücken. Seine Miene sagte eindeutig, daß sie diesen kleinen Umschwung zu ihren Gunsten genießen sollte, solange es ging.
Als sie sich unter dem grauen Morgenhimmel den schlüpfrigen Hang hinabbegaben, bot sich Renie zum erstenmal ein Blick über die Landschaft. Hinter dem Lager schnitt eine breite Piste durch den Dschungel. Das umliegende Gelände war größtenteils flach; Hochnebel verschleierte den Horizont und verlieh dem Wald den Anschein endloser Ausdehnung.
Die Bewohner des Lagers waren dunkelhäutig, aber nicht so dunkel wie sie, und die meisten, die sie sah, hatten glatte schwarze Haare. Ihre Kleidung gab keine Hinweise auf die Zeit oder den Ort, da die meisten nur Hosen anhatten und ihr Schuhwerk von rotem Schlamm überkrustet war.
Einer der am nächsten stehenden Arbeiter erspähte sie und schrie den anderen etwas zu. Viele blickten sich nach ihnen um. »Nimm meine Hand«, flüsterte sie !Xabbu zu. »Denk dran – in den meisten Ländern sprechen Paviane nicht.«
Einer der Arbeiter war fortgegangen, vielleicht um die Behörden zu benachrichtigen. Oder womöglich um Waffen zu holen, dachte Renie. Wie abgeschnitten war dieser Ort? Was bedeutete es, in so einer Situation eine unbewaffnete Frau zu sein? Es war beunruhigend, so wenig zu wissen – als wäre man zu einem anderen Sonnensystem verschleppt und mit nur einem Picknickkorb in der Hand vom Raumschiff abgesetzt worden.
Ein schweigender Halbkreis von Arbeitern bildete sich, als Renie und !Xabbu näherkamen, aber hielt einen Abstand, der Respekt oder Aberglauben signalisieren konnte. Renie erwiderte ihre Blicke unerschrocken. Die Männer waren zum größten Teil klein und drahtig und erinnerten sie mit ihren leicht asiatischen Gesichtszügen an Bilder von Mongolen in einer Steppenlandschaft, die sie einmal gesehen hatte. Einige trugen Armbänder mit durchsichtigen, jadeartigen Steinen oder Amulette aus Metall und schlammbesudelte Federn an Riemen um den Hals.
Ein Mann in einem Hemd und mit einem breitkrempigen, kegelförmigen Strohhut auf dem Kopf trat mit geschäftiger Miene hinter der größer werdenden Schar von Arbeitern hervor. Er hatte kräftige Muskeln, eine lange scharfe Nase und einen Bauch, der ihm über seinen bunten Gürtel hing. Renie vermutete, daß er der Vorarbeiter war.
»Sprichst du Englisch?« fragte sie.
Er stutzte, musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Was ist das?«
Renies Verwirrung verging sofort. Anscheinend hatte die Simulation eine automatische Übersetzungsfunktion, so daß sie die Sprache des Vorarbeiters und er ihre zu sprechen schien. Im weiteren Verlauf des Gesprächs sah sie, daß seine Mundbewegungen nicht zu den geäußerten Worten paßten, was ihre Vermutung bestätigte. Sie bemerkte auch, daß er in seiner durchstochenen Unterlippe einen kleinen goldenen Pflock trug.
»Entschuldigung. Wir … ich habe mich verlaufen. Ich hatte einen Unfall.« Innerlich fluchte sie. Die ganze Zeit über, die sie und !Xabbu sich durch den Dschungel gekämpft hatten, war sie gar nicht darauf gekommen, sich eine Geschichte auszudenken. Sie mußte improvisieren. »Ich war mit einer Gruppe von Wanderern unterwegs, aber ich wurde von den andern getrennt.« Jetzt konnte sie nur hoffen, daß man die Sitte, zum Vergnügen zu wandern, in diesem Land kannte.
Anscheinend ja. »Du bist weit von jeder Stadt entfernt«, entgegnete er und bedachte sie dabei mit einem pfiffigen Blick, als ob er vermutete, daß sie ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte, aber sich nicht sehr daran störte. »Natürlich ist es schlimm, wenn man weit weg von zuhause ist und sich verlaufen hat. Ich heiße Tok. Komm mit.«
Mit dem schweigenden !Xabbu an der Seite, der zwar allseits angegafft wurde, aber zu dem niemand eine Bemerkung machte, versuchte Renie beim Gang durch das Lager zu ergründen, wo sie waren. Der Vorarbeiter sah genauso asiatisch oder orientalisch aus wie die anderen. An seinem Gürtel hing etwas, das wie ein Feldtelefon aussah – es hatte eine kurze Antenne –, aber zylindrisch und mit Gravierungen bedeckt war. Auf einer der größeren Hütten war etwas angebracht, das sehr einer Satellitenschüssel ähnelte. Das Ganze fügte sich nicht zu einem erkennbaren Muster zusammen.
Die Satellitenhütte war, wie sich herausstellte, Toks Büro und Behausung. Er wies Renie einen Stuhl
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