Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
wurde aus dem System befördert.
Er blieb lange im Sessel sitzen und ignorierte drei Anrufe, während er darüber nachdachte, was er gerade gesehen und gehört hatte. Schließlich stand er auf. Unten hatten die Aufräumleute ihre Vorbereitungen beendet und stiegen in ihren Lieferwagen.
Dread schnippte den Zigarrenstummel vom Balkon in das dunkle Wasser und ging ins Haus zurück.
> »Guck, wir müssen bloß die Enden noch einmal festbinden, dann sind wir fertig.« Fredericks hielt eine Handvoll sich ringelnder Schlingpflanzen und Ranken in die Höhe. »Da draußen gibt’s Wellen, Orlando, und wer weiß was noch. Haie – vielleicht Meeresungeheuer. Komm schon, die paar Handgriffe, die wir jetzt mehr machen, werden sich hundertmal rentieren, wenn wir auf dem Wasser sind.«
Orlando betrachtete das Floß. Es war recht ordentlich gemacht: feste, schwere Schilfrohre zu langen Bündeln verschnürt und diese wiederum zu einem langen Rechteck zusammengebunden. Wahrscheinlich würde es sogar schwimmen. Er tat sich nur schwer, großes Interesse dafür aufzubringen.
»Ich muß mich einen Moment hinsetzen.« Er taumelte in den Schatten der nächsten Palme und ließ sich in den Sand fallen.
»Na schön. Ich mach’s. Das kennen wir ja schon.« Fredericks ging an die Arbeit.
Orlando hob eine zitternde Hand hoch, um seine Augen vor der Sonne abzuschirmen, die zwischen den Palmblättern hindurchschien. Die Stadt war zur Mittagszeit anders; den ganzen Tag über veränderten sich mit dem Wandel des Lichtes fortwährend die Farben und die Metallreflexionen, wurden die Schatten kürzer und länger. Gerade jetzt, wo die goldenen Dächer ihrem eigenen Schatten entstiegen wie einem lehmigen Boden, sah sie aus wie eine riesige Pilzkolonie.
Er ließ seine Hand sinken und lehnte sich an den Stamm der Palme. Er war sehr, sehr schwach. Er konnte sich leicht vorstellen, sich im Sand einzuwühlen wie eine Baumwurzel und sich nie wieder zu bewegen. Er war von seiner Krankheit erschöpft und lustlos, und er wußte nicht, wie er noch so eine Nacht wie die letzte durchstehen sollte, eine Nacht voller Wirren und Schrecken und Wahnvorstellungen, allesamt unverständlich und alles andere als erholsam.
»Okay, ich hab alles doppelt verschnürt. Hilfst du mir wenigstens, es zum Wasser zu tragen?«
Orlando starrte ihn lange an, aber Fredericks’ rosiges, unglückliches Gesicht wollte einfach nicht weggehen. Er stöhnte. »Ich komme.«
Das Floß schwamm wirklich, wenn auch einzelne Teile hartnäckig unter der Wasserlinie blieben, so daß es nirgends einen trockenen Sitzplatz gab. Aber wegen des warmen Wetters war das nicht allzu schlimm. Orlando war froh, daß er Fredericks wenigstens dazu gebracht hatte, die Wand der Palmwedelhütte mitzunehmen, unabhängig davon, wie kurz die Fahrt nach Ansicht seines Freundes werden würde. Orlando legte sie gekippt über sich und Fredericks, so daß sie an ihren Schultern lehnte. Sie hielt die schlimmste Nachmittagssonne ab, aber trug wenig dazu bei, die Hitze in seinem Kopf und seinen Gelenken zu kühlen.
»Mir geht’s nicht sehr gut«, sagte er leise. »Wie gesagt, ich hab ’ne Lungenentzündung.« Das war so ziemlich das einzige Gesprächsthema, das er anzubieten hatte, aber er bekam es selbst schon langsam satt. Fredericks stach verbissen mit einem improvisierten Paddel ins Wasser und entgegnete nichts.
Erstaunlicherweise – wenigstens für Orlando – bewegten sie sich tatsächlich langsam auf die Stadt zu. Durch die Querströmung trieben sie unverkennbar ab, so daß sie nach Orlandos Einschätzung auf die Nordseite der Küste zuhielten, aber die Abdrift war gering; es konnte durchaus sein, daß sie ans andere Ufer kamen, bevor die Strömung sie aufs offene Wasser – wahrscheinlich eines Ozeans – hinaustrug. Und wenn nicht… tja, Fredericks wäre enttäuscht, aber Orlando sah nicht so recht, was das für einen Unterschied machen würde. Er gaukelte mit stündlich schwindenden Kräften durch eine Art Zwischenwelt, und die Welt, die er hinter sich gelassen hatte (und die ihm wunderlicherweise immer noch ab und zu als die »reale« erschien), war keineswegs besser.
»Ich weiß, daß du krank bist, aber könntest du trotzdem ein Weilchen zu paddeln versuchen?« Fredericks gab sich alle Mühe, nicht vorwurfsvoll zu klingen; wie aus weiter Ferne bewunderte Orlando ihn/sie dafür. »Mir tun echt die Arme weh, aber wenn wir uns nicht weiter anstrengen, wird die Strömung uns vom Strand
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