Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Vorstadtkrankenhaus wie diesem…
Sie fluchte und stellte den Bildschirm wieder an. Diesmal schoß der Bildlauf an der S-Rubrik vorbei und war mitten im T, bevor sie ihn anhalten konnte. Es sollte nicht so ein Aufwand sein, sich kurz mal zu informieren. Es war gemein. Als ob die bescheuerte Quarantäne nicht schon lästig genug wäre!
Infoplakate über Bukavu 4 hingen derzeit überall in Pinetown, aber die meisten waren so dicht mit Graffiti übermalt, daß sie nie richtig schlau daraus geworden war. Sie wußte, daß es Ausbrüche des Virus in Durban gegeben hatte, und hatte sogar mitgehört, wie sich zwei Frauen über die Tochter von jemand aus Pinetown unterhalten hatten, die nach einer Reise durch Zentralafrika daran gestorben war, aber Renie hätte nie gedacht, daß das gesamte Klinikum Durban Outskirt unter die amtlichen UN-Quarantänebestimmungen für Bukavu-Ausbrüche fallen könnte.
Wenn die Seuche so scheißgefährlich ist, dachte sie, was denken die sich dann dabei, Kranke hierherzubringen, die gar nicht davon befallen sind? Der Gedanke machte sie wütend, ihr Bruder, der ohnehin schon an einer unbekannten Krankheit darniederlag, könnte an dem Ort, an den sie ihn zur Behandlung gebracht hatte, einer noch schlimmeren Ansteckungsgefahr ausgesetzt sein.
Doch noch während sie innerlich tobte, sah sie auch schon die Gründe ein. Sie war selbst bei einer öffentlichen Einrichtung beschäftigt. Die Mittel waren knapp – immer waren die Mittel knapp. Wenn ein Krankenhaus eigens für Bukavu-Patienten finanzierbar wäre, gäbe es eines. Die Krankenhausverwaltung war bestimmt nicht sehr glücklich darüber, daß sie versuchen mußte, den normalen Betrieb unter Quarantänebedingungen aufrechtzuerhalten. Vielleicht lag darin ja sogar ein ganz vager Hoffnungsschimmer: Durban hatte offenbar noch nicht genug B4-Fälle, daß es ein ganzes Krankenhaus zu ihrer Pflege gerechtfertigt hätte.
Aber das war ein schwacher Trost.
Renie brachte das alte Interface schließlich bei S zum Stehen und gab ihren Besuchercode ein. Bei »Sulaweyo, Stephen« stand »unverändert«, was bedeutete, daß sie ihn wenigstens besuchen konnte. Aber Stephen derzeit zu sehen, hatte herzzerreißend wenig mit irgend etwas zu tun, das sie einen »Besuch« genannt hätte.
Ein Pfleger las ihr von einem Pad Verhaltensmaßregeln vor, während sie sich in einen Ensuit quälte, obwohl er Renie nur wenig sagen konnte, was sie nicht schon dem einen Wort auf dem Monitor im Wartezimmer entnommen hatte. Sie war mittlerweile so vertraut mit der Litanei, daß sie sie selbst hätte aufsagen können, und deshalb ließ sie den Pfleger gehen, als er fertig war, und unterdrückte den Drang, sich an das erstbeste Symbol offizieller Kompetenz zu klammern und um Antworten zu betteln. Renie wußte inzwischen, daß es keine Antworten gab. Keine erkennbaren Viren – Gott sei Dank auch keine Anzeichen der tödlichen Krankheit, die dem Krankenhaus derart strenge Sicherheitsvorkehrungen aufnötigte. Kein Blutgerinnsel und keine sonstigen Blockierungen, kein Gehirntrauma. Nichts. Nur ein kleiner Bruder, der seit zweiundzwanzig Tagen nicht aufgewacht war.
Sie schlurfte den Flur entlang und hielt ihren Luftschlauch hoch, damit er nirgends hängenblieb. Gruppen von Ärzten und Pflegern – möglicherweise auch andere Besucher, da in einem Ensuit alle ziemlich gleich aussahen – eilten mit den gleichen knisternden und zischenden Geräuschen, die sie auch machte, an ihr vorbei. Es war ein wenig so, als wäre sie in einem alten Nachrichtenvideo über den bemannten Raumflug; als sie an einem großen Fenster vorbeikam, rechnete sie beinahe damit, draußen die sternenübersäten Tiefen des Weltraums zu erblicken oder vielleicht die Saturnringe. Statt dessen fiel ihr Blick nur auf noch eine Station voll zeltüberspannter Betten, den nächsten Campingplatz der lebenden Toten.
Auf ihrem Weg in den dritten Stock wurde Renie zweimal angehalten und aufgefordert, ihren Besucherpaß vorzuzeigen. Obwohl beide Ordnungskräfte viel Zeit für die Überprüfung der schlecht leserlichen Beschriftung brauchten – die Folge eines krepierenden Druckers, verschärft durch den Plexiglasgesichtsschutz der Ensuits –, ärgerte sie die Verzögerung nicht. Ja, sie fand es sogar irgendwie beruhigend zu wissen, daß das Krankenhaus wirklich auf die Einhaltung der Quarantäne achtete. Stephen war so rasch und so schwer erkrankt … und auf so rätselhafte Art… daß es ihr fast wie eine
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