Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
stampfte in die Küche und machte Schranktüren auf und zu. »Ein Haufen dummes Zeug. Angst vor mir! Ich hab ihm nur die Meinung gesagt. Nich mal angerührt hab ich ihn.«
»Es ist keiner da.«
Das Kramen im Schrank hörte auf. »Was?«
»Es ist keiner da. Ich hab dir keinen Wein gekauft.«
»Sag du mir nich, wo ich nach suche!«
»Schön. Mach, was du willst.« Renie schmerzte der Kopf, und sie war so müde, daß sie nicht aus ihrem Sessel aufstehen wollte, bis der Anbruch des kommenden Tages sie dazu zwang. Mit Arbeit, Fahrzeit und Besuchen bei Stephen brachte sie mindestens vierzehn Stunden am Tag außer Haus zu. So viel zum Jahrhundert der Information – wegen jeder Kleinigkeit mußte man irgendwohin, irgendwen aufsuchen, meistens auf wehen Füßen, weil die elenden Züge nicht fuhren. Das Cyberzeitalter. Ein Scheißdreck.
Long Joseph tauchte wieder im Wohnzimmer auf. »Ich geh wohin. Ein Mann hat auch mal Frieden verdient.«
Renie beschloß, einen letzten Versuch zu unternehmen. »Hör mal, Papa, egal, was du denkst, es würde Stephen gut tun, deine Stimme zu hören. Komm mit, wenn ich ihn besuche.«
Er erhob die Hand, wie um nach etwas auszuholen, dann hielt er sie lange über die Augen gepreßt. Als er sie wegnahm, war sein Gesicht ganz verzweifelt. »Da hingehn«, sagte er heiser. »Ich soll also da hingehn und zugucken, wie mein Sohn stirbt.«
Renie war schockiert. »Er stirbt doch nicht!«
»Ach? Springt wohl und rennt rum? Spielt Fußball?« Long Joseph streckte weit die Arme aus; seine Kiefermuskeln arbeiteten heftig. »Nein, er liegt da im Krankenhaus genau wie seine Mama. Du warst bei deiner Großmutter, Mädel. Du warst nich da. Drei Wochen hab ich da gesessen und deine Mama mit ihren Verbrennungen da in dem Bett angeschaut. Versucht, ihr Wasser zu geben, wenn sie geweint hat. Zugeguckt, wie sie langsam gestorben ist.« Er blinzelte mehrmals und kehrte ihr dann abrupt den Rücken zu, die Schultern eingezogen wie vor dem Schlag einer Nilpferdpeitsche. Als er die Stimme wiederfand, war sie beinahe die eines anderen. »Viel … viel Zeit hab ich in dem verdammten Krankenhaus verbracht.«
Tränen schossen ihr in die Augen, und vor Erschütterung konnte Renie eine Weile nichts sagen. »Papa?«
Er wandte sich nicht zu ihr um. »Genug jetzt, Mädel. Ich geh hin. Ich bin sein Vater – du mußt mir nich meine Pflichten sagen.«
»Du gehst hin? Magst du morgen mit mir mitkommen?«
Er machte einen unwirschen Ton in der Kehle. »Ich hab was vor. Ich sag Bescheid, wenn ich geh.«
Sie versuchte zärtlich zu sein. »Tu’s bitte bald, Papa. Er braucht dich.«
»Ja, ja, ich geh schon, verdammt. Wieder den blöden Anzug anziehen. Aber sag du mir nich wann.« Noch immer nicht willens oder nicht fähig, ihr in die Augen zu sehen, stieß er die Tür auf und taumelte hinaus.
Völlig ausgelaugt und verwirrt blieb Renie sitzen und starrte lange die geschlossene Tür an. Irgend etwas war gerade passiert, aber sie war sich nicht ganz sicher, was es war oder was es bedeutete. Einen Moment lang hatte sie so etwas wie eine Verbindung zu dem Vater gespürt, den sie einst gekannt hatte – zu dem Mann, der nach dem Tod seiner Frau solche Anstrengungen unternommen hatte, die Familie beisammen zu halten, der noch nebenher gearbeitet und sie zum Studium ermuntert und sogar versucht hatte, Renie und ihrer Großmutter Uma’ Bongela mit dem kleinen Stephen zu helfen. Doch nachdem ihre Uma’ gestorben und Renie eine erwachsene Frau geworden war, hatte er einfach kapituliert. Mit dem Long Joseph von einst schien es aus und vorbei zu sein.
Renie seufzte. Ob das nun stimmte oder nicht, sie hatte jedenfalls im Moment nicht die Kraft, sich damit auseinanderzusetzen.
Sie ließ sich tiefer in den Sessel sinken und kniff vor rasenden Kopfschmerzen die Augen zusammen. Sie hatte natürlich vergessen, sich Schmerzmittel nachzukaufen, und wenn sie sich nicht um alles kümmerte, tat es niemand. Sie stellte den Wandbildschirm an und geriet an einen Bericht über den jüngsten Beschluß der UN-Kulturkommission, die Höflichkeitsanrede in allen Sprachen, die sie formell noch besaßen, endgültig abzuschaffen. Mein Gott, als ob irgendwo auf der Welt sich tatsächlich noch Leute siezten, außer in historischen Abenteuerspielen; die entsprechenden Formen waren schon seit Jahrzehnten nicht mehr in Gebrauch, und auch die französische Kultusministerin, die sich bis zuletzt gegen den Beschluß gewehrt hatte, hatte immer nur mit der
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