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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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vorsätzliche Bosheit vorkam. Renie hatte Angst um ihr Brüderchen, Angst vor etwas, das sie nicht erklären konnte. Sie empfand es als tröstlich, wenn Leute gut aufpaßten.
    Renie wünschte sich von ganzem Herzen, daß der Zustand ihres Bruders sich besserte, aber noch mehr fürchtete sie eine Verschlechterung. Als sie ihn in genau derselben Lage antraf wie am Tag zuvor und alle Monitore immer noch wie eingerastet auf Werten standen, die sie inzwischen so gut kannte wie ihre eigene Adresse, war sie unglücklich und erleichtert zugleich.
    O Gott, mein armer kleiner Mann… Er war so winzig in dem großen Bett. Wie konnte ein kleiner Wildfang wie Stephen so ruhig sein, so still? Und wie konnte sie, die ihn gefüttert, ihn beschützt, ihn abends ins Bett gesteckt hatte, die ihm in jeder Hinsicht außer der leiblichen eine Mutter gewesen war, wie konnte sie jetzt derart qualvoll außerstande sein, irgend etwas für ihn zu tun? Das durfte nicht sein! Aber es war so.
    Sie setzte sich neben sein Bett und steckte ihre handschuhumschlossene Hand in den größeren Handschuh, der in die Wand des Zeltes eingebaut war. Sie führte ihre Finger vorsichtig an dem Gewirr von Sensorkabeln vorbei, die von seiner Schädeldecke ausgingen, und streichelte sein Gesicht, die bekannte und ihr so liebe Linie seiner runden Stirn, seine Stupsnase. Es brach ihr fast das Herz, so vollkommen von ihm getrennt zu sein. Es war so, wie jemanden in der VR zu berühren – sie hätten sich genauso gut im Inneren Distrikt treffen können…
    Ein Erinnerungsfunke wurde von einer Bewegung an der Tür erstickt. Trotz ihres eigenen Ensuits fuhr sie bei dem Anblick der weißen Erscheinung zusammen.
    »Tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe, Frau Sulaweyo.«
    »Oh, du bist’s. Irgendeine Veränderung?«
    Doktor Chandhar beugte sich vor und prüfte die Monitoranzeigen, doch selbst Renie wußte, daß dort keine Informationen zu holen waren.
    »Ziemlich gleichbleibend, wie es aussieht. Tut mir leid.«
    Renies Achselzucken hätte Schicksalsergebenheit sein können, aber das Ziehen im Unterleib, das warme Vorgefühl von Tränen strafte den Eindruck Lügen. Aber Weinen half nichts. Davon beschlug nur die Gesichtsscheibe. »Warum kann mir niemand sagen, was ihm fehlt?«
    Die Ärztin schüttelte den Kopf oder bewegte wenigstens die Haube ihres Ensuits hin und her. »Du bist ein gebildeter Mensch, Frau Sulaweyo. Manchmal hat die Medizin keine Antworten, nur Vermutungen. Im Augenblick sind unsere Vermutungen nicht sehr fundiert. Aber das kann sich ändern. Wenigstens ist der Zustand deines Bruders stabil.«
    »Stabil! Das ist er auch bei einer Topfpflanze!« Jetzt kamen die Tränen doch. Sie drehte sich wieder zu Stephen um, obwohl sie im Moment gar nichts sah.
    Ein unmenschliche Handschuhhand berührte ihre Schulter. »Es tut mir leid. Wir tun alles, was in unserer Macht steht.«
    »Und das wäre?« Renie bemühte sich um Festigkeit in der Stimme, aber sie konnte das Schniefen nicht unterdrücken. Wie sollte sich ein Mensch in diesen verdammten Anzügen die Nase putzen? »Sag mir doch bitte, was ihr tut. Außer ihn in die Sonne stellen und regelmäßig gießen.«
    »Der Fall deines Bruders ist selten, aber nicht einmalig.« Doktor Chandhars Stimme bekam den für die Kategorie »Umgang mit schwierigen Angehörigen« typischen Klang. »Es gab – und gibt – noch andere Kinder, die ohne ersichtlichen Grund in einen solchen komatösen Zustand gefallen sind. Einige sind spontan wieder genesen, sind einfach eines Tages aufgewacht und wollten etwas zu trinken oder zu essen haben.«
    »Und die andern? Diejenigen, die sich nicht einfach aufgesetzt und ein Eis verlangt haben?«
    Die Ärztin nahm die Hand von Renies Schulter. »Wir tun unser Bestes, Frau Sulaweyo. Und du kannst nichts anderes tun, als was du jetzt schon tust – hierherkommen, damit Stephen deine Berührung fühlen und deine vertraute Stimme hören kann.«
    »Ich weiß, das hast du mir schon mal gesagt. Das heißt im Klartext, ich soll mit Stephen reden, statt dir in den Ohren zu liegen.« Renie holte zitternd Luft. Die Tränen flossen nicht mehr, aber ihre Gesichtsscheibe war noch beschlagen. »Ich will’s ja gar nicht an dir auslassen, Frau Doktor. Ich weiß, daß du eine Menge Kummer hast.«
    »Die letzten paar Monate hier waren keine besonders gute Zeit. Ich frage mich manchmal, warum ich mir einen Beruf ausgesucht habe, wo man so viel Trauriges erlebt.« Doktor Chandhar drehte sich in der Tür um.

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