Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
»Aber es ist gut, etwas dagegen tun zu können, und manchmal kann ich das. Und manchmal, Frau Sulaweyo, gibt es wunderbare Glücksmomente. Ich hoffe sehr, daß du und ich einen solchen Moment erleben werden, wenn Stephen zu uns zurückkommt.«
Renie schaute hinterher, wie die verschwommene weiße Gestalt in den Korridor schlurfte. Die Schiebetür ging wieder zu. Es war zum Verrücktwerden: Auch wenn sie noch so sehr jemanden suchte, mit dem sie sich anlegen, dem sie die Schuld geben konnte, es gab niemanden. Die Ärzte taten wirklich ihr Bestes. Trotz seiner eingeschränkten Möglichkeiten hatte das Krankenhaus nahezu jeden Test mit Stephen veranstaltet, der zu einer Klärung der Ursachen seiner Erkrankung hätte beitragen können. Keiner hatte angeschlagen. Es gab keine Antworten. Man konnte wahrhaftig niemandem Vorwürfe machen.
Außer Gott, dachte sie. Vielleicht. Aber das hatte noch nie viel genützt. Und vielleicht war auch Long Joseph Sulaweyo nicht ganz schuldlos an allem.
Renie berührte abermals Stephens Gesicht. Sie hoffte, daß der reaktionslose Körper sie irgendwo tief drinnen fühlen und hören konnte, selbst durch zwei Schutzschichten hindurch.
»Ich hab ein Buch mit, Stephen. Diesmal keins von meinen Lieblingsbüchern, sondern eins von deinen.« Sie lächelte traurig. Sie wollte ihn immer dazu bewegen, afrikanische Sachen zu lesen – Geschichten, Berichte, Märchen aus dem gemischten Stammeserbe ihrer Familie. Sie wollte, daß er in einer Welt, wo solche Relikte rasch vom unerbittlichen Gletscherstrom der Erstweltkultur zerrieben wurden, stolz auf seine Herkunft war. Aber Stephens Vorlieben hatten nie diese Richtung genommen.
Sie schaltete ihr Pad an und stellte den Text größer, um ihn trotz der Tränen in ihren Augen lesen zu können. Sie ließ die Bilder weg. Sie wollte sie nicht sehen und Stephen konnte nicht. »Es ist Netsurfer auf Streife«, sagte sie und fing an zu lesen.
»›Der Malihu-Hyperblock ist total dicht‹, rief Masker, während er durch die Tür gebrettert kam und sein Skimboard ohne die gewohnte Achtsamkeit ins Nebenzimmer abzoomen ließ. Bei dem Versuch, sich selbst zurück in das Gestell zu manövrieren, stieß das Zingray 220 mehrere andere Bretter zur Seite. Masker ignorierte das Gepolter, seine Meldung beschäftigte ihn mehr. ›Sie haben tierisch starke Sonden an allen Flowpoints.‹
›Ein hundsbrutaler Hammer ist das‹, sagte Scoop. Er ließ sein hologestreiftes Pad in der Luft schweben und drehte sich zu seinem aufgeregten Freund um. ›Da muß ein Megastunk im Gange sein – späcig hoch zwei!‹…«
> »Wenn du ihn doch einfach besuchen gehen würdest!«
Long Joseph hielt sich die Hände an den Kopf, wie um den Lärm nicht hören zu müssen. »Ich war da, oder etwa nich?«
»Zweimal! Zweimal warst du da – einen Tag, nachdem ich ihn eingeliefert hatte, und dann als die Ärztin dich zu einer Besprechung bestellte.«
»Was sonst noch? Er is krank. Soll ich vielleicht jeden Tag hingehn wie du, ihn mir anschauen? Er is trotzdem krank. Besuch ihn, soviel du willst, dadurch wird er auch nich gesünder.«
Renie kochte innerlich. Wie konnte jemand so unmöglich sein? »Er ist dein Sohn, Papa. Er ist noch ein Kind. Er liegt ganz allein in dieser Klinik.«
»Und kriegt nix mit, gar nix! Ich bin hin, hab mit ihm geredet, und er kriegt nix mit. Wozu dein ganzes Reden, Reden …? Du liest ihm sogar Bücher vor!«
»Weil eine vertraute Stimme ihm helfen könnte, den Weg zurück zu finden.« Sie hielt inne und betete zu dem Gott ihres Kinderglaubens – einem Gott, der gütiger war als jeder, für den sie in diesen Tagen Glauben mobilisieren konnte – um Stärke. »Und vielleicht ist es deine Stimme, die er am dringendsten braucht, Papa. Das hat jedenfalls die Ärztin gemeint.«
Wie bei einem gehetzten Fuchs schossen seine Augen zur Seite, als suchte er einen Fluchtweg. »Was soll der Quatsch heißen?«
»Ihr habt euch gestritten. Du warst wütend auf ihn, hast ihm gesagt, er soll nicht wiederkommen. Jetzt ist ihm etwas zugestoßen, und vielleicht hat er irgendwo tief drinnen Angst davor wiederzukommen, wie in einem Traum. Vielleicht denkt er, du bist ihm böse, und bleibt deshalb weg.«
Long Joseph stieß sich von der Couch hoch und versuchte, seinen Schrecken hinter lautem Gepolter zu verstecken. »Sowas … so kannst du mit mir nich reden, Mädel, und von so ’ner Ärztin laß ich mir schon gleich gar nich in meine Angelegenheiten reinreden.« Er
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